Der altgewordene Löwe

[61] Ein Löwe, einst der Wälder Schrecken,

Doch nun gebeugt von hohen Jahren,

Mußte zu seiner Qual entdecken,

Daß seine Pranken kraftlos waren.

Er konnte nichts mehr niederstrecken.

Die sonst sein Brüllen trieb zu Paaren,

Durften sich dreisten Hohns erkecken.

Das Pferd versetzt ihm eins mit hartem Huf,

Der Wolf läßt sein Gebiß ihn fühlen,

Ja selbst das Rind will nun mit kühnem Ruf

Und Hörnerstoß sein Mütchen an ihm kühlen.

Der arme Löwe, siech und schmachbefleckt,

Hält allen diesen Martern still,

Kaum daß er grollend noch den Nacken reckt;

Geduldig trägt er, was das Schicksal will.

Doch als des Esels Kampfruf ihn erweckt,

Der dreist den Kopf in seine Höhle streckt,

Da fährt er auf: »O Schmach! Das ist zu viel!

Den Tod vor Augen litt ich still das böse Spiel –

Doch daß der Esel hilft, mich zu verderben,

Verdoppelt mir das Leiden und das Sterben!«

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 61-62.
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