Der kranke Hirsch

[202] In einem Land, das voller Hirsche war,

Ward eines dieser Tiere krank.

Man eilt zur Stelle, wo der Edle niedersank,

Ihn sehn, ihn trösten. Welche lästige Schar!

»Ihr Herren, laßt mich sterben!

Erlaubt, daß auf gewohnte Art

Die Parze ende meine Lebensfahrt,

So werdet ihr euch meinen Dank erwerben;

Ich bitte, laßt das Weinen sein!«

Im Gegenteil, untröstlich war ihr Schrein,

Denn atemlose Klage schien hier Pflicht.

Und als sie gingen, so geschah es nicht

Ganz ohne einen Schluck zu trinken,

Nicht ohne von dem Recht Gebrauch zu machen,

Von grünen Ästen, die da winken,

Die zarten Zweiglein zu zerkrachen,

Die grünen Blättlein zu verzehren

Und so das Buschwerk in der Runde

Von all dem schönen Laub zu leeren.

Der Hirsch in der Genesungsstunde

Fand nichts mehr, was ihm Nahrung bot;

So kam er in noch größre Not

Und starb sogar den Hungertod.


Was ihr bedürft, es kostet stets etwas,

Sei's nun der Arzt des Leibes, sei es der der Seele.

»O welche Zeit!« Freund, schone deine Kehle,

Du dünkst nur jedem gut zum Aderlaß!

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 202-203.
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