Die Alte und die beiden Mägde

[90] Zwei Mägde dienten einer Alten.

Sie spannen, daß die Parzen im Vergleich mit ihnen

Als Stümperinnen nur erschienen.

Die Arbeit stets in Gang zu halten,

Das war der geizigen Alten einziges Sorgen.

Wenn Phöbus mit verklärten Mienen

Thetys verließ am frühsten Morgen,

Begann das Spiel von Rad und Spindel schon,

Und emsig trieb man's, bis der Tag entflohn.

Kaum trat Auroras Wagen in die Bahn,

Da rief auch schon ein schlimmer Hahn.

Auf sprang sofort die Alte, dies noch schlimmer Weib,

Und warf den Lumpenrock sich um den Leib,

Der kalt und dürr wie ihre Spindel war,

Und machte Licht und lief schnurstracks zum Bette,

In dem das arme Mägdepaar

Gar gern ein Weilchen noch geschlafen hätte

Mit all dem Appetit der jungen Jahre.

Die eine fuhr sich blinzelnd durch die Haare,

Die andre streckte sich mit müdem Gähnen,

Und beide murmelten voll Unbehagen

Und mit gefletschten Zähnen:

»Verwünschter Hahn, dir geht es an den Kragen!«

Und heimlich fingen sie das Vieh.

Durch seine Weckergurgel fuhr das Messer.

Doch machte dieser Mord ihr Los nicht besser,

Im Gegenteil, kaum schliefen sie,

Da riß das Weib in Furcht, die Stunde zu versäumen,

Gleich einem Poltergeist das Paar schon aus den Träumen.[91]

Und so geschah es häufig schon:

Man will aus übler Lage sich befrein

Und rennt sich nur noch mehr hinein.

Beweis: die Mägde und ihr Lohn.

Die Alte an des Hahnes Stelle nun

Ließ sie den Sprung von Szylla in Charybdis tun.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 90-92.
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