Die Schlange und die Feile

[101] In eines Uhrenmachers Nachbarschaft

Hat eine Schlange einst gehaust

(Als Nachbarin gewiß sehr grauenhaft).

Nachdem sie lange nichts geschmaust,

Ist sie in seinen Laden eingedrungen,

Um Fraß zu finden; schlecht ist ihr's gelungen:

Nichts fand sie dort zu ihrem Mahl

Als eine Feile, harten Stahl.

Doch sie begann daran zu nagen.

Da hörte sie die Feile sagen:

»O arme Törin, welch ein Wahn!

Ich bin wohl härter als dein Zahn.

Du aber scheinst nicht recht gescheit:

Eh du aus mir ein Eckchen nagst heraus,

Brech ich dir alle Zähne aus.

Ich fürchte nur den Zahn der Zeit.«


Das gilt für euch, unnütze kleine Geister,

Die alles stets verkleinern wollen.

Erfolglos doch ist euer Tollen!

Ihr glaubt die schönen Werke großer Meister

Zu schänden durch der giftigen Zähne Mal?

Für euch sind Erz sie, Diamant und Stahl.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 101-102.
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