Die Taube und die Ameise

[36] Zu schwach ist keiner und zu klein –

Er kann dem andern dienlich sein.


Aus einem klaren Bächlein trank

Ein Täubchen in dem Augenblick,

Als eine Ameis niedersank

Ins Wasser, das für sie ein Meer.

Sie hätte nie ans Land zurück

Sich retten können, wenn ihr nicht

Die Taube beigesprungen wär.

Die fühlte des Erbarmens Pflicht

Und warf ein Hälmchen Gras hinab,

Das der Ertrinkenden die Brücke gab,

Auf der sie eilig lief zum Uferrand.

Als sie auf festem Boden sich befand

Und ihre Retterin zum Baum geflogen,

Da kam ein wilder Mann des Wegs gezogen

Verlumpt und barfuß, der die Taube sah

Und gierig griff zu Pfeil und Bogen.

Er meinte, daß der Vogel da

Als guter Schmaus ihm sei gesandt,

Und will ihn töten. Wie er spannt

Die Sehne und verborgen zielt,

Da beißt die Ameis ihn ins Bein,

Wobei er sich nicht still verhielt,

Denn solch ein Biß bereitet Pein.

Nun merkt die Taube, was ihr droht,

Und schnell enteilet sie dem Tod.

Lebwohl, du schönes Festgericht,

So billig war die Taube nicht!

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 36-37.
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