Fünf und zwanzigster Brief

[155] Mariane! Ich war Heut in einer großen Gesellschaft. Männer, viele Männer, im eigentlichen Verstande genommen, waren da; manche wichtige Gegenstände der Unterredungen kamen zum Vorschein; alle wurden flüchtig behandelt, nur bey dem von der Religion blieben sie am längsten stehen. Billig wäre es, das Nöthigste und Beste am längsten zu betrachten; aber, meine Liebe! die Art, mit der etliche von den Männern von einigen Theilen der Religion redeten, war nicht gut! besonders schmerzte mich, daß gerade in Gegenwart der Hausbedienten solche Stücke berührt wurden, auf die sie nothwendig aufmerksam werden mußten. Der Mann, so davon redete, sprach mit dem Ton des Wissens und der Ueberzeugung. Ein Paar andere, die auch Anspruch an Scharfsinn haben, fielen ihm bey; der Hausherr war still, und natürlicher Weise sprachen die Frauenzimmer hier nicht mit. Meine Seele war ruhig, weil, dem Himmel sey Dank! meine[155] Religion in meinem Herzen und nicht in meinem Kopfe ist, und ich sie in Handlungen, nicht in Reden lege: aber die horchende Miene der Bedienten drang mich, einem der besten unter den Männern zu sagen: Ob der treue Glaube des gemeinen Mannes dem zweifelnden und grübelnden Gelehrten nicht eben so ehrwürdig seyn sollte, als die Unschuld der Jugend einer gewissen Gattung anderer Leute sey? Ich fände es sehr grausam, durch eine muthwillige Verwendung des Uebermaaßes an Geisteskräften den Frieden der Seele des Ruhigglaubenden zu stören. – Der edle empfindsame Mann sah mich ganz bedeutend an, gab mir Recht, und unterbrach den reisenden Lauf des Gesprächs. Ich war froh darüber; denn warum soll der auf einem zügellosen Pferde sitzende Reiter das Recht haben, dem redlichen Fußgänger seinen stützenden Stab zu entreissen? der ihn just vor dem Abgrunde bewahren wird, in welchen der andre stürzen kann. – Ich sagte dann mir selbst, warum sehen die Männer die Pflichten der Religion, die Unterwerfung ihres Geistes, so leicht als ein Joch an, das ihren Nacken drückt, und suchen sich davon loszuwinden? warum geschieht[156] dieses nur bey Männern von einer gewissen Klasse? Ist das Gefühl der Stärke, die ihnen die Natur giebt, oder das, von Freyheit, Willkühr, und Obergewalt, die ihnen Umstände und Gesetze geben, daran Ursache? Bald möchte ich das Letztere glauben! Denn unter dem weiblichen Geschlecht ist noch niemals eine Empörung über Glaubensartikel entstanden. Weil wir von Jugend auf, denke ich, an die Idee einer über uns herrschenden Menschengewalt gewöhnt sind, so kostet es uns gar keine Mühe, Vorschriften und Gesetzen zu folgen und nachzugeben, die das Gepräge des göttlichen Willens und Rathschlusses an sich tragen. Zudem machte ich noch die Bemerkung, daß unter dem gemeinen, auch von Uebermacht beherrschten Manne, von jeher die Schwärmer, und niemals die Bestürmer der Religion entstanden sind, so, daß der Muthwille und die Unbändigkeit, die aus dem Ueberflusse an Glücks- Geistes- oder Gewaltskräften entstehen, die Hauptursachen dieser männlichen Verkehrtheit seyn mögen. – Weiter, meine Liebe, gebührt mir nicht zu gehen! Doch freut mich innigst, bey den vielfältigen, oft zu eifrigen Widersprüchen gekommenen Unterredungen, über[157] den wahren Verstand dieses oder jenes biblischen Gedanken, immer bey Allen eine tiefe Verehrung für den göttlichen Ausspruch gesehen zu haben: »Liebe Gott über alles, und deinen Nächsten als dich selbst.« –

Möge dieses in alle meine Thaten des Lebens verwebt, und am Ende meiner Tage das, Zeugniß seyn, mit welchem ich den letzten Blick auf meinen Nebenmenschen, und den ersten in die Ewigkeit thun werde! –[158]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 155-159.
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