Neun und zwanzigster Brief

[184] Abends 9 Uhr, von dem Schlosse R**.


Ich habe den heutigen schönen Herbsttag hier zugebracht; aber blos in der Absicht, Henriettens Grab zu besuchen, und deswegen kam ich in großer Gesellschaft, um von Frau G** weniger vermißt zu werden. Ich hatte das nemliche Kleid angezogen, in welchem mich Henriette das Erstemal sah; mich darinn umarmt, und ihren schönen Kopf auf meine Schulter gelehnt hatte. – Ich ging durch einen Umweg, zwischen den Feldern und Hecken, ganz allein. Ich, die sonst unmöglich allein durch die Straße einer Stadt gehen konnte. Aber das Gefühl von Tod, Ewigkeit, Tugend und Freundschaft, erhob mich über alle andere Empfindungen. Meine Seele dünkte mich größer, erhabener, als jemals. In dem weiten Luftraume war Ruhe um mich her, da der Landmann auf der welkenden Wiese, und dem kaum ausgesäeten[184] Felde, für seine arbeitsame Hand nichts zu thun hat. Nichts störte meine Bewegungen, nichts hinderte sie. Ich war nicht munter, Mariane, aber glücklich, sehr glücklich! Jeder Blick gen Himmel war in meinem Herzen ein süsses heitres Gefühl von dem Vaterlande, das mich näher dünkte, als während meinem Aufenthalte in der Stadt und in Häusern. – Die schöne braune Farbe des neugebauten Feldes ließ mich, mit ausgebreiteten Armen und mit innigem Gefühl, unserm großen liebenswürdigen Klopstock nachsagen: »Sey mir gegrüßt, Erde! mein mütterlich Land! die du mich gebahrest, und einst im kühlenden Schooße zu den Entschlafenen Gottes begräbst, und meine Gebeine sanft bedeckst!«

Mit diesem kam ich allmählig auf die kleine Höhe, wo ich rechter Hand Henriettens Wohnhaus, die gelben welkenden Blätter der Laube und die rothwerdende Epichwand des Nebenhauses sah; auf meiner Linken aber, die sich am blauen Firmament erhebende Stücke der alten Capelle und des runden Daches über Henriettens Grabe, ansichtig wurde. Ich blieb stehen. Eine Thräne trat, mit der Erinnerung[185] jeder Auftritte in diesem Hause, in mein Auge. – Edle selige Freundinn, Deinen Wohlstand, Deine Blüthe sahe ich nicht; nur Dein Verwelken und die zitternde Bewegungen, die der Hauch des Zufalls in den letzten Tagen Deiner Hinfälligkeit verursachte! Sanft, wie das Haupt einer zerstörten Blume, fielest Du zur Erde! – Ach, möchte mit Deinem letzten Blicke Deine reine Tugend mein Erbtheil geworden seyn! –

Nun war ich an ihrem Ruheplatze, und blieb am Eintritt stehen; nicht nur von dem Anblick ihres Grabes äußerst bewegt, sondern auch dadurch gerührt, daß ich meinen Schatten an ihrem Grabstein sah, wohin ihn die niedergehende Sonne warf. Ich weiß nicht, aus welcher gemischten Bewegung ich mich an eine Säule lehnte, und solche mit einem Arm umfaßte, eben, da ich in mir sagte: »Der Schatten der lebenden Freundinn über dem Staub der todten.« – Ich zog meinen Handschuh aus, sah auf Henriettens Miniaturbild, welches ich in ein Armband gefaßt habe, küßte es, und ging an den sie deckenden Stein. – Ein kleiner Schauer überfiel mich, und auch der Gedanke, warum bist[186] du herangegangen? Doch gleich zog ich auch meinen rechten Handschuh aus, breitete meinen ganzen Arm über den Stein hin, und ich konnte sprechen: »Ach, kalt, fühllos, wie Du! ist nun das Herz, in welchem die zärtlichste und feurigste Liebe wohnte, und aus welchem so viel thätige Tugend floß!« – Ein für Worte zu starkes Gefühl, ließ mich auf eine Zeit lang schweigen und weinen. Tief in meine Seele drang der Gedanke Verwesung! Aber ein Sonnenstrahl, der zwischen den Säulen einfiel, und Henriettens Bildniß beleuchtete, belebte auf einmal mit ganzer Kraft das Gefühl von Unsterblichkeit unsers besten Theils; mein Herz sprach: »Ja, glänzender, als die höchste Blühte Deiner irdischen Reize war, ist nun die verewigte Schönheit Deiner Seele! und ich, in vollem Genuß des Lebens und der Gesundheit, auf Dein frühes Grab gestützt, sehe die höchste Glückseligkeit in Deinem seligen Tode! – Das Beste, so ich nach diesem noch von der Erde begehren würde, ist eine Thräne der Freundschaft, die das Auge meiner Mariane auf meinem Grabe vergösse, wenn ihr Herz noch eine Zeit lang ein Zeuge[187] der Tugend des meinigen gewesen seyn wird.«

Aber, Mariane! warum kniete ich in dem Augenblicke, da ich an meinen C** dachte, nieder? warum flossen bey seiner Erinnerung meine Thränen häufiger, und warum fühlte ich mein Herz gepreßter, als vorher? – An dem Grabe einer viel liebenswürdigern Person, als ich bin, geschahe dieses. – Ach, wenn es Vorbedeutung wäre, daß mein Herz auch von der Hand meines Geliebten gebrochen werden sollte! – Ich konnte nicht mehr bleiben; rafte eine Handvoll Grashälmchen zusammen, die ganz dicht an dem Leichenstein hervorgesprosset waren, und küßte Henriettens Namen. – Die Kälte des Steins, die ich an meinen Lippen empfand, und welche auch zugleich im Ueberbeugen durch meinen seidenen Mantel auf meine Brust drang, gab mir eine Art von Erstarren. Ich ging heraus, mußte mich aber, weil ich etwas zitterte, niedersetzen; da kam der junge Weber mit seiner Frau, Henriettens treue Lise, und der Hofbauer, mit zwey Kindern, hinter der Capelle her, ohne zu reden, und die Männer mit den Hüten in der Hand.[188] Sie staunten mich an und schaueten umher, ob noch Jemand bey mir wäre? – Lise schlug die Hände zusammen, und sagte: »Ach, Sie lieben mein armes Fräulein noch!« fiel vor mir auf die Knie und weinte laut. Die andern stunden wehmüthig um uns her. Ich konnte es nicht länger aushalten, steckte mein Gras in die Schürze, und reichte den Leuten die Hände. – Lise sah das Bild, zog meine Hand an sich: »Ach, so sah sie aus, so schön war sie!« – Die andern drangen sich ehrerbietig, aber eifrig hinzu; und die Ausrufungen: Ach, Du wohlthätiger Engel! und das mit erhabenen Händen: Gott vergelte Dir! gingen mir durch die Seele. Weinend sagte ich: »Gott segne Eure dankbare Herzen, und lasse Uns einmal alle im Himmel bey ihr stehen, wie wir bey ihrem Grabe stehen!«

Wie schnell, meine Mariane, wirkten diese wenigen Worte auf die guten Leute! Alle Hände falteten sich; in jedem Gesicht war ein frommer Entschluß und ein Schimmer von seliger Freude. Sie faßten meine Hände, mein Kleid; gerade, als ob sie mir für die[189] Einladung dankten, und versprechen wollten, gewiß da zu seyn!

Henriette! vielleicht hat Deine Seele in den Unsrigen gelesen, und freute sich, daß bey Deinem Grabe Gelübde der Tugend gemacht werden! – Feyerlich dachte ich dieses, da ich noch ihr Grab ansahe. – Ich umarmte Lisen, winkte den Leuten, da zu bleiben, und ging langsam mit den letzten Strahlen der Sonne nach R** zurück, wo ich in mein Zimmer mich ein schloß, von meinem Grase Henriettens und meinen Namen zwischen Papier flochte, Ihnen schrieb, und itzt mit einer heiligen aber süssen Schwermuth schlafen gehe.

Ihre

Rosalia.[190]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 184-191.
Lizenz:
Kategorien: