Dreyßigster Brief

[191] Da bin ich in der Stadt zurück; und da wir uns nun ein Jahr hier aufhalten werden, habe ich einen Plan für mein Vergnügen gemacht. Doch wenn jemals eine fremde Person Ursache hatte, den Charakter der hiesigen Einwohner zu lieben, so habe ichs, weil die meisten, die ich hier kenne, so viel Aufmerksamkeit für mich bezeigen, daß sie in alles eingehen, was sie von meinen Lieblingsneigungen wissen; denn sie befleißen sich, mir die Familien zu bezeichnen, worinn schöne moralische Auftritte vorkommen. Andre suchen in ihrem Gedächtniß charakteristische Züge hervor, die zur Ehre der Menschheit unsers Zeitalters dienen, und ich habe wirklich das Glück gehabt, in dem Zirkel, in welchem ich meistens lebe, dem Vergnügen des Lobens, das Uebergewicht über die Reize des Tadelns zu geben. – Ein Zufall veranlaßte die Bemerkung, daß verkehrte Begriffe von der Glückseligkeit, den Fortgang und die Ausbreitung der Tugend verhinderten. Hätte[191] man, zum Beweis, eben so viel Werth auf die Bekanntschaft und den Umgang mit Weisen und Tugendhaften gelegt, als man demjenigen Vorzüge ertheilt, der sich des vertrauten Zutritts bey Großen und Mächtigen rühmen kann: so würde die Begierde nach wahren Verdiensten des Geistes und Herzens eben so herrschend geworden seyn, als es der Ehrgeiz nach Rang und Titeln geworden ist. – Ein munterer, aber zugleich ganz vieldenkender junger Mann fiel hier ein: Er wäre überzeugt, daß dieser Wunsch sehr leicht erfüllt werden konnte, wenn das Glück der Tugend und Weisheit in sichtbaren Kennzeichen erschiene; oder wenn in jedem Lande ein Mittelpunkt vorhanden wäre, dem allein wahres thätiges Verdienst sich nähern dürfte. Ein einziger edler Mann kann dieses hervorbringen! Ich sahe, fuhr er fort, den Beweis davon, während meinem Aufenthalte in S**, wo einer der würdigsten Cavaliere eine angesehene Stelle bekleidet, und darinn nicht nur die Früchte seiner Gelehrsamkeit zum Besten des Landes verwendet, sondern als Schutzgeist der Rechtschaffenheit, der Kenntnisse und des redlichen Eifers für das gemeine Wohl erscheint;[192] dessen Haus der Tempel ist, wohin das verfolgte Verdienst sich flüchtet, und an dessen Händen alle edle, alle würdige Männer sich anschließen; dessen Achtung als Beweis dient, daß man Tugend und Wissenschaften besitzt. Diesem vortreflichen Manne wird das große schöne Land, worinnen er wohnt, noch auf späte Zeiten den Anbau des vaterländischen Verdienstes zu danken haben.

Urtheilen Sie, meine Mariane, von dem Bergnügen, so ich hatte, in diesem Gemählde ganz allein den w. R** S** v. G** zu sehn, den ich selbst kenne, und in diesem Augenblick die so seltene Freude genoß, nicht nur jeden Zug dieses Bildes als wahr zu erkennen, sondern noch jede liebenswürdige Eigenschaft der edelsten und stärksten Fühlbarkeit des Herzens dazu setzen konnte, welche so deutlich in der schönen Melancholie seiner Gedichte erscheint, und in seinem Privatleben herrscht!

Dieser ganz unvollkommne Umriß eines moralisch großen Mannes, ist der Anfang von charakteristischen Beschreibungen, die wir in dem Auszug unserer Gesellschaft, von lebenden Personen, und die wir selbst kennen,[193] machen wollen. – Wir sind nur fünf Verbündete. – Der Kreis unserer Bekanntschaft ist nicht groß! da wollen wir doch sehen, wie viel übende Tugend uns vorgekommen ist. Sie sollen allezeit Abschriften haben.

Herr Fr** sagt, es wäre eine der edelsten Beschäftigungen, die ich mir in dem letzten harmlosen Jahre meines Lebens machen könne; denn, sobald Herr C** seine Verbindung mit mir vollzöge: so würden andre und bestimmtere Sorgen an die Stelle der einseitigen Befriedigung meines Herzens treten; doch wünsche er; daß ich immer die Gewalt haben möchte, die Umstände nach meinen Gesinnungen zu beugen, weil sie sehr oft den Ausdruck und die Handlungen unserer Seele verhinderten. O, er hat Recht! denn wie oft habe ich dieses schon erfahren! Aber, mein Freund C** denkt wie ich; nur er wird meine weltliche Obergewalt seyn, und ich also in seinem Hause nach meinem Herzen leben können. Große süsse Hofnung

Ihrer

Rosalia.[194]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 191-195.
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