Fünf und dreyßigster Brief

[222] Ich bin von unserm Tisch aufgestanden, an welchem mir ein moralisches Uebelseyn die Lust zum Essen raubte. Es kam kurz vor Mittagszeit ein artiger Mann zu Herrn G**, den er, gleich nach der Bewillkommung, eines veränderten Wesens anklagte.

»Zürnen Sie nicht,« sagte der Fremde, über meine Düsternheit; »es gehörte jedes Jahr Probe und Kenntniß Ihrer Rechtschaffenheit dazu, die ich von Ihnen habe, um mich noch Einmal aus dem Hause meines traurigen Freundes zu bringen, dessen Herz und Glück von der Hand desjenigen verwundet wurde, an den allein er sich mit allen Banden des Vertrauens und der Liebe seit einigen Jahren fesselte, da er alle andere Verbindungen ausgeschlagen, ja, sogar in dem Eifer für das Beste dieses Lieblings seines getäuschten Herzens, gegen andre ungerecht war.«

Herr F**, welcher mit uns aß, fühlte Abscheu und Erstaunen, welcher den rechtschaffenen[222] Mann bey Anhörung einer Niederträchtigkeit ergreift. »Es ist nicht möglich,« sagte er, »Sie mahlen das Bild zu schwarz.«

»Zu schwarz? Hören Sie mich nur!« – Und hier fing eine Geschichte an, die ich nicht wiederholen werde. Männer müssen diesen starken häßlichen Stoff ausarbeiten. –

»Warum dann,« sagte Herrn F**, »warum dieses abscheuliche Gewebe von Undank und Falschheit?«

»Um Gold, und um den Ruhm von Feinheit des Geists!«

Herr Fr** nahm seinen Schwager G** bey der Hand: »O, mein Bruder!« sagte er, »niemals, niemals wollen wir Glück und Ehre auf diesem elenden Wege suchen! Möge die Vorsicht meine Söhne durch einen frühen Tod aus meinen väterlichen Armen reissen, wenn ihre Seele nicht redlich, nicht edel genug ist, um bey Wasser und Brod, durch das Zeugniß ihres Herzens glücklich zu seyn; wenn sie Zeiten erleben sollen, wo der Heuchler und Verräther mehr, als der frevmüthige und gerechte Mann angesehen seyn wird!«

Ist nicht dieser Herr F** in jeder Gelegenheit ein moralisch edler Mann? In ihm[223] lebt eine der alten großen Seelen, aus denen sich republicanische Heldentugenden verbreiteten. – Möge der Kreis seines Ansehens und seiner Gewalt immer weiter werden! denn, ich bin überzeugt, daß sein Beyspiel Gute, und seine Menschenliebe Glückliche machen wird. – Dieses dachte ich, während daß er redte, und seine Schwester G** flüsterte mir ins Ohr: »Rosalia! Ihre Blicke auf meinen Bruder sind sehr bedeutend!«

»Möchten Sie,« sagte ich, »alle die Verehrung ausdrücken, die der theure Mann mir einflößt: so würde ich mit meinen Augen sehr zufrieden seyn.« –

»Gott helfe Ihrem armen C**,« erwiederte sie, »bey alle den Aufwallungen Ihrer Seele, wenn Sie eine Ihrer Lieblings-Verdienste erblicken!«

Mit diesem kleinen Geschwätz machte sie, daß ich einen Theil der Unterredung verlohr, die ganz wichtig gewesen seyn muß; denn ich sah den Fremden die Hand des Herrn Fr** nehmen, ihn durchdringend ansehen, und hörte ihn sagen: »Sie, Herr Fr**, Sie! nehmen so vielen edelmüthigen Antheil an dem Kummer des Herrn A**, Sie! die[224] vielleicht Ursache hätten, Freude darüber zu haben.« –

»Diese Art von Freude ist nicht für mich!« sagte Herr Fr** ganz ernsthaft. »Glauben Sie, daß ich eben so unfähig bin, mich an Feinden zu rächen, als ich es wäre, den Busen eines Freundes zu zerreißen.«

Madame G** war so muthwillig aufmerksam auf mich, daß ich auch deswegen in mein Zimmer eilte, wo mir der Charakter des Herrn F** um so schätzbarer erschien, als man selten Menschen findet, die ohne persönlichen: Eigennutz für die thätige Tugend eifern. Denn wie oft bleibt Geist und Charakter eines vortreflichen Mannes ungeliebt und ungeachtet, weil die kleinen Seelen, die ihn umgeben, ihn nicht zu ihren Absichten gebrauchen können; und wie oft wird ein bekannter Bösewicht geschützt und geduldet, weil er der Eigenliebe schmeichelt, oder dem Eigennutz dient! Herr Fr** aber bejammerte den Unfall eines Mannes, der ihm geschadet hatte, und sprach den Abend noch von der Entheiligung der Freundschaft, und des Vertrauens, als einer der größten Vergehungen, deren sich ein Mann schuldig machen könnte. Ich fühlte die Wahrheit einer[225] jeden Silbe, in dem Werth der Freundschaft meiner Mariane, deren Liebe mein höchstes Glück ist. Wie elend müßte ich werden, wenn ich die seligen Stunden vergäße, worinn Ihre edle Seele sich mit aller Freymüthigkeit mit mir besprach, Ihre Gedanken von Personen und Sachen anvertraute und auf die treuen Gesinnungen meines Herzens rechnete. Wie froh bin ich, die Unmöglichkeit dieses Vergessens in mir zu fühlen, weil ich mir es als den Gedanken eines Meuchelmords vorstelle, den man an der Ruhe und dem Glücke seines Freundes verübt. O, gewiß, meine Mariane, die zwey göttlichen Bilder, der Tugend und Freundschaft, sollen in meiner Seele auf immer die gleiche Verehrung genießen, und mit äußerster Sorgfalt will ich mich vor jeder Beleidigung hüten, weil ich allzeit beyde zugleich verwunden würde.[226]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 222-227.
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