Sechs und dreyßigster Brief

[227] Mariane! ich bin stolz geworden, und sehe mich, seit gestern früh zehn Uhr, als eine Person von außerordentlichen Vorzügen an, weil mir Herr Fr** in einer langen Unterredung einen unschätzbaren Beweis seiner Hochachtung gegeben hat. Doch würden Sie gewiß eben so wenig, als ich es dachte, den Anlaß dazu an meinem Putztische gesucht haben!

Herr Fr** frühstückte bey seiner Frau Schwester G**, mit welcher mein Oheim wirklich ein Hauß auf kommenden Winter bewohnt. Ich war, als ich gerufen wurde, schon angekleidet, aber Madame G** kam im Nachtzeug, und mußte dahero bald zum Anziehen eilen. Ich suchte sie aufzuhalten, indem ich sie versicherte, daß es noch Zeit genug zu ihrem Putze wäre. »Ja!« sagte sie, »wenn ich mich nur einmummeln wollte, wie Sie es machen! Aber ich will meine Person und meinen Geist in gleichem Werth erhalten.« Damit ging sie von uns; und Herr[227] Fr** fragte mich: Ob ich schon ein Frauenzimmer von so meisterhaftem Muthwillen gesehen hätte, wie seine Schwester? »Ich,« fuhr er fort, »habe mit Vergnügen bemerkt, wie besorgt sie sind, die Reize: Ihrer Person unter einer bescheidenen Kleidung zu verbergen. Ich weiß, daß Sie es aus einer doppelt seinen Empfindung thun, weil Sie nur für Herrn C** ganz schön seyn; und auch dem Uebel ausweichen wollen, daß für Sie, aus den Begierden des einen, und aus der Mißgunst des andern Geschlechts, entstehen könnte. Ich möchte aber sehr gerne daraus eine Bitte ziehen, die Ihre Seele zum Gegenstand hat, an der ich so schöne Züge gesehen, daß ich auch einen Schleyer darüber wünschte, den Sie nur vor den Augen des wahren Liebhabers abnehmen sollten, um bey andern das Mißvergnügen zu vermeiden, welches zu glänzende Vorzüge allezeit hervorbringen!«

Meine Mariane denkt wohl, daß ich hier, ungeachtet seines sanften Tons und Miene, stutzte und erröthete; er sagte mir aber gleich: »Werden Sie nicht unruhig, meine theure Freundinn, und sehen Sie alles, was ich[228] sage, als Sorgfalt für Ihre Glückseligkeit, und als Vertrauen auf Ihren Charakter an. Ihre Liebe der thätigen Tugend, der Kenntnisse des Geists, das lebendige Gefühl des Edlen und Schönen, sind bewundernswerthe und vortrefliche Eigenschaften Ihrer Seele; aber, glauben Sie nicht, daß die Stärke des Ausdrucks, mit welcher Sie solche zeigen, eine verletzende Art von Vorwurf, des geringern Grades oder des Mangels dieser Empfindungen ist? und der großmüthige Reiche sollte sich niemals im vollen Genuß seiner Güter vor die Augen des Dürftigen stellen.«

Hier fiel ich ihm in die Rede, und bat ihn, versichert zu seyn, daß, wenn die Idee von Reichthum und Mangel, auf diese Weise in mir gewesen wäre: so würde ich gewiß nicht oft von meinen herrschenden Neigungen geredet haben! Aber, setzte ich hinzu, es steht ja in jedes Menschen Gewalt, moralische Güter zu sammlen, und sie mit Wucher zu vermehren.

»Wie hart ist dieser Ausspruch, meine Freundinn! aber der Eifer hindert immer die Sanftmuth! Mir ist leid, daß ich jetzt[229] über ihren Einwurf nicht alles sagen kann, was ich wollte. Ich bitte Sie nur, nicht zu fest auf diesem Satze zu halten; und meistens zu denken, daß ehe der Mangel an Kenntniß, als der Mangel am Willen, die Ursache vieler Fehler unsers Nächsten sind. Und lassen Sie,« sagte er lächelnd, »diesen Gedanken zu dem Stück Schleyer werden, in den Sie Ihren moralischen Eifer hüllen wollen!«

Ich wollte ihm hierauf für seine Unterredung danken; aber er unterbrach mich, indem er mich bat, ihm einige meiner gesammelten Charaktere zu weisen, die ich so gleich holte, und nachdem er weg war, alles dies schrieb, und wahrhaftig bey der Wiederholung finde, daß mein hastiges Gutseyn etwas Unfreundliches hat. Warum verwiesen Sie mir es niemals?[230]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 227-231.
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