Acht und dreyßigster Brief

[236] Wir haben bey Madame W** gefrühstückt. Eine sehr gefällige Munterkeit schien sie zu beherrschen; doch ganz kleine Theile der Unterredung zeigten mir ihre Empfindsamkeit und den moralischen Ton ihrer Seele. Sie mag einst schön gewesen seyn; aber nun sind ihre Züge durch Gemüthsleiden zerrüttet, und ihre Gesichtsfarbe blaß. Doch herrscht in ihrem ganzen Wesen etwas außerordentlich Einnehmendes. Madame G** stellte mich ihr vor, und sagte: »Sie werden gewiß mit der Bekanntschaft von Rosalia L** sehr zufrieden seyn, weil sie eine ganz seltene Empfindsamkeit mit sich gebracht hat.« Madame W** umarmte sie lächelnd, und sagte ihr nach: »Seltene Empfindsamkeit! Liebe boshafte Frau! Wie sehr stützen Sie sich auf meine Verschwiegenheit. Denn Sie wissen, daß ich vieles von der Zärtlichkeit dieses Herzens erzählen könnte!« wobey sie auf die Brust der Madame G** wies. –[236]

Herr Fr** sagte nichts von mir, gab aber den Gesprächen immer eine Wendung, in welcher nothwendiger Weise Madame W** ihren Charakter, obwohl in abgebrochenen Stücken, zeigen mußte. Als wir wieder nach Hause kamen, sagte ich dem Herrn Fr** ganz freymüthig, daß er durch diesen Besuch meine Neugierde über den Charakter der Madame W** nur gereizt, aber nicht befriedigt hätte. Er fand es wahr; und versprach mir, einen Pack ihrer Briefe an ihn, wo ich sie ganz sehen könnte, und aus denen er mir erlaubte, Auszüge zu machen.

Hier sind Abschriften davon. Ich bedaure, daß ich nicht alles, und besonders auch die Copien seiner Briefe, abschreiben durfte: sonst hätten Sie die ganze Stärke männlicher Freundschaft und Weisheit in seinen, und das höchste Maaß moralischer Fühlbarkeit einer weiblichen Seele in denen von Madame W** gesehen. In einen der ersten sagt sie ihm: Sie dankte dem Schicksal, einmal einen Mann gesehen zu haben, der die lebendige Hochachtung, die eine Frau für seinen Geist und Charakter zeige, nicht als gewöhnliche Bewegungen von Liebe beurtheile; und dann versichert[237] sie ihn: »Hätte ich Sie auch niemals gesehen, niemals das Glück Ihres Beyfalls erhalten und nur von Ihrer Rechtschaffenheit des Herzens, und den Kenntnissen Ihres Geistes reden gehört, so dächte ich für sie, wie jetzt, und wie ich vor ein halb Hundert vortreflicher Männer der alten und neuen Geschichte denke.« –

Dann einmal: »Ich danke Ihnen, edler Freund, für Ihre Freymüthlgkeit; Sie haben Recht, ich bin mit meinem Vermögen und meinen guten Gesinnungen zu freygebig, und es ist wahr, ich habe noch keine Seele gefunden, die für mich denken und thun würde, was ich immer noch fähig wäre, zum Besten anderer zu thun.« –

Wieder: »Was soll ich zu dem Vorschlage einer andern Einkleidung meines Charakters sagen? Wie sauer, mein Freund! o wie sauer, sollte mir dieses werden! Denn, wenn ich mein Herz vor den Augen Gottes entfalte, so danke ich ihm, daß er mir es so gab! Meine süsseste Glückseligkeit ist, den gegenwärtigen Augenblick meines Lebens an den Gedanken des letzten zu rücken, und dann mit kindlicher Liebe und Freude, Gott, Tod[238] und Ewigkeit mir vorzustellen. Die Wirkungen dieses Gefühls sind schon lange mit jeder Triebfeder meiner Handlungen und meines Denkens verbunden. Vor dem Auge des Himmels, darf ich mit Vertrauen, und vor den Menschen soll ich mit so viel Behutsamkeit erscheinen? Warum? Sagen Sie mir, warum?«

Hierüber hatte Herr Fr** einen großen sehr schönen Brief, über hohe, und herablassende liebreiche Tugend geschrieben, den er nicht bekannt gemacht haben will. Und hier sagte sie: »Es ist unmöglich, mein Freund! daß ich Ihnen den Dank meines Herzens, für die edle Bemühung Ihres Geistes ausdrücke. Ihre Unterscheidung der hohen und herablassenden menschenfreundlichen Tugend ist schön; aber beynahe zu fein, und etwas zu schmeichelhaft für mich. Aber Ihr Endzweck ist meine Ruhe, und die Befriedigung derer, womit ich lebe. – Ich ergebe mich, mein Freund, und rufe hier eine meiner alten Lieblings-Ideen zurück: daß eigentlich nichts Tugend genennt werden kann, als was wir zum Besten unserer[239] Nebenmenschen, mit Aufopferung unsers Selbstthun!«

In einem sagt sie, nach einer Krankheit: »Sie haben meine Geduld, meine Gelassenheit in Schmerzen gelobt, mein Freund! Ich werde alle Leiden, die ich von der Hand der Natur aufgelegt bekomme, beständig mit der anbetenden Unterwerfung tragen, die ich dem Urheber der Natur schuldig bin. Ich verdiene nicht weniger, als andere, zu leiden! und mein väterlicher Schöpfer wird mir nicht mehr als andern aufladen.« –

In den letztern liegt viel, aber unbenennter Kummer. Sie sagt unter andern: »Es ist mir leichter, mein Freund! viel leichter, eine drückende Last auf meinen Schultern zu behalten, als sie, auch durch die gerechteste Anklage, auf einen andern zu wälzen. Und der, dessen Hand meine Glückseligkeit so grausam verletzte; kennt meinen Jammer wohl, aber er macht es nicht, wie schon oft großmüthige Feinde thaten, die alle ihre Sorgen und Kräfte zur Heilung der von ihnen geschlagenen Wunde darboten.« –

In einem folgenden steht: Sie wolle ihr eigenes Ich für ihre übrigen Tage vor der ganzen[240] Welt verbergen, und allein durch ihren Geist mit den Menschen fortleben. Für das Glück ihres Herzens nichts mehr fordern, nichts mehr erwarten, aber für das Wohl Andrer alles thun, so weit ihre Kräfte reichten.

Sie gesteht Herrn Fr**, daß es ein Gemisch von natürlicher Großmuth, und einem, durch Erfahrung erlangten Mistrauen sey, welches sie hindere, ihm ihr leidendes Herz zu eröfnen, und seinen Trost und Hülfe zu genießen. – Sie fühle, daß sie dem Schicksal das Sonderbare und Einzelne ihres Charakters theuer bezahlen müsse: es solle aber, so viel sie es verhindern könne, bey dieser Abgabe niemand zu leiden haben, als sie. – Dieser Gedanke sey es, der die Heiterkeit ihres Tons unterhalte, indem sie den Becher der Freuden ihrer Kinder, Hausgenossen und Freunde, durch ein trauriges nachdenkliches Wesen nicht verbittern wolle.

Dann bittet sie ihn, ihr Freund zu bleiben, und versichert ihn, daß er keine Fehler des Charakters an ihr sehen solle, als die, welche die Anfoderungen des Eigensinns und Eigennutzens Andrer so benennen. Sie hoffe aber, die Gesinnungen, die Gott in ihre Seele gelegt[241] hätte, bis in ihren Tod zu behalten, weil ich gewiß sey, daß sie in der andern Welt werde seyn dürfen, was sie sey, und dort über ihre Empfindsamkeit nicht gespottet, und ihr Eifer für moralische Thätigkeit nicht werde getadelt werden.

O, der edle, der glückliche Stolz dieser moralisch stark fühlenden Seele! – Jeder Tag nähert sich dem Untergange ihrer eigenen Glückseligkeit, die sie nicht durch Vergehen, nicht durch Mißbrauch, sondern durch boshafte niedrige Ränke einer Person verliert, in welcher sie Edelmüthigkeit und Güte zu sehen glaubte. O Mariane! mein Herz fühlt beynah noch mehr sympathetisches Leiden für diese Frau, als bey Henrietten! Es ist auch ganz natürlich. Henriette trug eine einfache Last. Unabhängigkeit, Gewalt, Gutes zu thun, und die Freyheit, ihren Gram ganz zu geniessen, versüßte den Kelch ihres Kummers. Die Umstände hinderten sie nicht, davon zu reden. Sie wurde geliebt und bedauert, weil bey ihrem Schicksal die Eigenliebe und Eigennutz der andern nichts abzugeben, nichts zu wagen hatten. – Denn, meine Mariane, Eitelkeit und Vortheile sind die Gränzsteine[242] der freundschaftlichen Gesinnungen in den meisten Seelen. – Ich habe aber ganz deutlich in den Briefen der Madame W** gesehen, daß unter den vielfältigen Schmerzen ihrer Seele auch dieser liegt, unter dem Kreise ihrer Bekannten lauter Personen zu sehen, die immer auf ihre Großmuth, sie aber auf keine von ihnen zählen könnte, außer dem einzigen edlen Mann, der sie liebt, weswegen sie aber, aus feiner zärtlicher Gesinnung, gerade ihm alles verbirgt.


Abends zehn Uhr.

Ich schrieb Vorhergehendes Gestern; und heute früh, da kam Herr Fr** und fragte nach seinen Briefen, und meinen Auszügen, die ich ihm zu lesen gab, – »O, Rosalia!« sagte er, »Sympathie, ganz allein Sympathie, hat die Auszüge und Anmerkungen gemacht! Ich habe es vorher gesehen! Lassen Sie sich, liebe junge Freundinn, Henrietten und Madame W** zu Merkstäben, während ihrem Wandel unter den Menschen, dienen! Denn, da Sie das seltene Glück haben, diese zwey Charaktere in sich zu vereinigen; so könnte[243] Sie auch das seltene Elend treffen, welches das Schicksal Ihren Schwestern-Seelen bereitete. – Denn Madame W** ist gewiß das Seitenstück Ihrer Henriette. Diese lehnte sich, bey dem Einsturz des willkührlichen Baues ihrer Glückseligkeit, allein auf ihr Herz, und es brach unter der Last ihrer verlohrnen Wünsche und Empfindungen. Madame W**, als Gattinn und Mutter, in mehr Verhältnissen des Herzens, in mehr Uebung des Geistes, und bey mannichfaltern Leiden, stützt sich allein auf die Verstandskräfte ihrer Seele; leidet aber nicht weniger. Hätte sie im Anfang der Gewalt der Umstände nachgegeben, so wäre ihre Ruhe und Leben gerettet worden. Denn, es ist gewiß, daß die Ueberspannung ihrer Seelenkräfte die Kräfte ihres Körpers zermalmen werden.« – Hier ging er fort; und ich dachte: O Fr**, Madame W** ist die Gattinn deiner Seele! wie viel leidest du mit ihr![244]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 236-245.
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