Sieben und dreyßigster Brief

[231] Nun habe ich mein Seelenbilderbuch wieder, und bin um ein Gemählde reicher geworden. – Gestern Abend gab mir Herr Fr** die Blätter zurück, und versicherte mich, daß er sie mit vieler Zufriedenheit gelesen hätte, weil er sie als Bildnisse glücklicher Menschen betrachtet habe; da er nur diejenigen glücklich nennt, welche ihr moralisches Leben in edlen und tugendhaften Handlungen genießen können. Er fragte mich zugleich um die eigentliche Ursache des Aufsuchens dieser Züge des menschlichen Herzens. »Um wirkliche Zeugnisse zu haben, wie gut wir seyn können, wenn wir wollen; und auch, um mir zu sagen, was andre gethan haben, das kannst Du auch thun.«

»Immer die Idee des Wollens!« sagte er. »Glauben Sie denn, daß man in seinem Leben oder in seinem Amte all das Gute thun kann und thun darf, was man wöllte? was heiligen Pflichten der Menschenliebe und der Klugheit gemäß wäre? Wie oft[231] muß man dem Eigensinne, dem Eigennutze und der Unwissenheit das Uebergewicht lassen! wenigstens sehr oft lange die beste und gerechteste Sache zwischen Dornbüschen durchschleppen, ehe man sie zum Ausgang bringt, weil die Obergewalt der Umstände den schönen Weg der geraden Strasse hinderten.«

»O, mein schätzbarer Freund! Sie machen mich besorgen, daß Sie aus Erfahrung reden, und daß Ihr edler Geist oft in seiner Wirksamkeit für das Beste und Rühmlichste gestört und gehindert wird; wie muß Ihnen da zu Muthe seyn!«

»Wie dem rechtschaffenen Landmanne, der sein angewiesenes Stück Feld mit treuem Fleiß und Mühe baute, dem aber Hagel, oder wilde Thiere alles verderben. Es schmerzt den guten Arbeiter, aber, er pflügt immer den Boden wieder. Säet gute Körner aus, und hoft endlich eine Erndte! – Aber, ich will von Ihren Papieren reden.

Ich habe die Geschichte Ihrer Henriette mit vieler Rührung gelesen; aber auch gefunden, daß ein wenig Biegsamkeit und Nachsicht gegen die zufälligen Schwachheiten[232] der Eigenliebe des Herrn M**, beyde glücklich gemacht, und alle ihr bittres Leiden und ihren frühen Tod verhindert hätte. Ich will Ihnen das Nebenstück zu diesem Charakter liefern. Aber nicht allein, um Ihre Sammlung zu verstärken, sondern damit einen Merkstaab mehr auf dem Wege Ihres Lebens zu befestigen; weil ich glaube, in Ihnen eine Zusammensetzung beyder Charaktere zu sehen, und also nothwendiger Weise denken muß, daß beynahe die nemlichen Folgen daraus entstehen könnten.

Ich habe,« fuhr er mit einem Seufzer fort, »eine sehr schätzbare Freundinn, deren fühlbares Herz in Rosaliens Jahren von moralischem Enthusiasmus glühte. Jede Triebfeder zu Tugend, Edelmuth und Güte lag in ihrer Seele, und viele Jahre haftete der schöne Wahn in ihr, daß man nur gute Eigenschaften des Herzens zeigen dürfe, um von den meisten Menschen geliebt zu werden, und daß es ihr bey der unausgesetzten Befolgung ihrer großen Grundsätze, gut zu seyn und Gutes zu thun, glücken würde und müßte. Aber sehr traurige Erfahrungen haben ihr bewiesen, daß man bey Ausübung[233] der Tugend eben so viel Behutsamkeit und Vorsicht nöthig habe, als der Bösewicht zur Ausführung seiner Ränke braucht: denn man ist ihrer Güte des Herzens und ihrem Wohlwollen begegnet, wie man dem freygebigen Reichen thut, in dessen Hause man satt nimmt und genießt, ihm aber nachher mit dem Namen eines Verschwenders bezeichnet. Was für grausame Rückgabe erhielt sie gegen die redlichste Hochachtung und Freundschaft! Wie viel Kummer und Leiden verbreitete ihr Glauben an edle Güte, und die Bescheidenheit, mit welcher sie ihre Einsichten andrer ihren unterwarf, über ihr ganzes Leben! Diese Frau, Rosalia, sollen Sie Morgen sehen. Die Stärke ihres Charakters mögen Sie nach der Leichtigkeit und Munterkeit ihrer Unterredung mit uns berechnen; denn ich weiß, daß ihr Herz wirklich unter einer Last von schmerzlichen Sorgen liegt, und daß sie das Ende ihrer Erdenglückseligkeit vor sich sieht. Sie könnte einen Theil davon durch gerechte Anklagen andrer erhalten: aber ihre Seele verwirft dieses Hülfsmittel. Auch mir, dessen wahre und treue Gesinnungen sie kennt, versagt sie die[234] Freude, ihr einen Theil dieser Last zu erleichtern. Sie faßte alle Kräfte ihres Verstands und Herzens zusammen, um ihr Schicksal allein zu tragen, und mit Shakepears König Lear sagen zu können: Unglück! sey mein Glück. Aber sie wird erliegen, wenn nicht die Vorsicht besonders über sie waltet.«

Urtheilen Sie, meine Mariane! von meiner Aufmerksamkeit bey dieser Erzählung, und wie begierig ich war, die Frau zu sehen, deren Charakter von diesem vortreflichen Manne so sehr geschätzt wird. Morgen gehen wir zu ihr; aber ich werde sie nicht recht sehen können, denn wir sind unser zu viele. – Ich will diesen und den morgenden Brief mit einander schicken. Gute Nacht, meine Freundinn! –[235]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 231-236.
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