Vier und vierzigster Brief

[284] Ich komme so eben von einer recht sehr interessanten Spatzierfahrt zurück, welche Herr von Ott veranstaltet hatte. Sie wissen, daß er einer der Verbündeten ist, die zu der Sammlung thätiger Tugenden beytragen müssen. Er hätte, ich weiß nicht, wie? vor einiger Zeit die Bekanntschaft eines beynah achtzigjährigen Ordensgeistlichen gemacht, der ungefähr zwey Stunden von hier, als Pfleger von einem schönen Landguthe seines Gotteshauses wohnt, und durch seine heitre freundliche Gemüthsart (ich denke auch, durch seine Gastfreyheit) bey allen Benachbarten sehr beliebt war, und fleißig besucht wurde. – Diesem guten Mann trug das Schicksal vor einigen Monaten die Sorge für zwey Findelkinder auf eine für ihn sonderbare und rührende Weise auf!

Er hatte immer die Gewohnheit, sein Brevier in den schönen Sommertagen in einem Laubengange zu beten, der ziemlich lang, und da er völlig bedeckt ist, an dem Ende[284] gegen das Feld, ganz dunkel wird. ... Dahin ging der liebe Alte in diesem Monat Junius, gleich nachdem er Frühmesse gehalten hatte, und betete da ganz andächtig vor sich hin, bis er am Ende des Laubenganges mit seinen Füßen so stark an Etwas in dem Wege stößt, daß er darüber gegen die grüne Wand hinfällt. Den Augenblick hört er die Stimme eines kleinen weinenden Kindes, erschrickt, rafft sich auf, und sieht einen, mit einer grünen Leinwand gedeckten Korb vor sich, aus dem die Stimme kam. ... Er faßt sich, sieht nach, und findet in dem Korbe zwey neugeborne Kinder und einen großen Brief, der vorne auf ihr Bettchen angeheftet, und an ihn überschrieben war. Er machte ihn auf, und lieset, daß die zwey Kinder, noch ungetauft, seiner Menschenliebe anvertraut werden; daß sie Abends neun Uhr geboren und seit drey Uhr in der Früh auf diesem Platz wären, wo man wüßte, daß er seine Morgenandacht hielte, und während dem Gebete das gute Werk nicht von sich weisen würde, für die armen Findelkinder zu sorgen, für welche Vater und Mutter nichts thun könnten, als Gott bitten, daß er ihn lange erhalten möchte. Er sollte die Knaben[285] nach seinen zwey Namen, dabey aber auch jeden Joseph Fürchtegott nennen.

Der Gedanke über die Zulassung Gottes, daß ihm diese Last in den Stunden des Gebets zugeführt wurde, gab ihm Muth, den Entschluß zu fassen, sich, so lange er lebte, der Kinder anzunehmen. Er kniete hin und gelobte ihnen, vor den Augen ihres und seines Gottes, ihr Pflegevater zu seyn. Nahm den Korb mit seinen beyden Armen und trug ihn ins Haus, wo die Haushälterinn eben so viel Lärmens machte, als ehmals des Herrn Worthy seine Debora, wie der gute Toms Jones hingelegt wurde. Der Alte kehrte sich nicht daran, und ließ den Kirchendiener nebst den Gerichtsleuten kommen, um die Kinder zu taufen, und die ganze Begebenheit genau aufzuschreiben. Nahm eine Wärterinn an, und sorgte mit Vatertreue für die Findlinge; denn er lud einige Tage nach ihrer Aufnahme seine benachbarten Freunde zu Gaste, gab ihnen, wie gewöhnlich, recht gut zu essen und zu trinken, führte sie nachher zu seinen Zwillingen, wies sie ihnen, erzählte die Geschichte und sagte: Sie müssen auf dem Platz im Garten, wo er sie gefunden hätte, ihre Gesundheit[286] trinken. Sie gingen alle lustig in den Laubengang, wo sie kostbaren Wein bereit fanden, und auf des Pflegevaters und der Kinder Wohlseyn tranken. Hier aber zog er eine Rechnungsrolle aus der Tasche, und wies ihnen die Erlaubniß seines Prälaten und Mitgeistlichen, von den Einkünften des Guthes so viel auf die Gastfreyheit zu verwenden; er hätte bisher mit Vergnügen Gebrauch davon gemacht, und sie alle herzlich gerne bey sich gesehen; er hoffe auch, daß es in Zukunft eben so seyn würde, wenn sie sich einen Vorschlag wollten gefallen lassen, den er zum Besten der Findelkinder ausgedacht hätte. Indem er die erlaubten Ausgaben nicht vergrößern möchte: so dächte er, die zwey Kinder als tägliche Gäste zu berechnen, hingegen denen, die er bisher gesehen, eine geringere Anzahl Speisen vorzusetzen, und dieses Ersparniß für die armen Kinder zurück zu legen, um hiedurch mit dem anvertrauten Gute seines Gotteshauses und seiner Pflegkinder gleich getreu zu verfahren. Alle billigten seine Gedanken, und machten den Findlingen, nicht nur mit ihrer Einwilligung, zu Verminderung der kostbaren Schmäuse, sondern mit einem Stück Geld ein Geschenk.[287] Der liebe, ehrwürdige Greis dankte für seine Findlinge, und führt seit diesem Tage genaue Gastrechnung zu ihrem Besten. Wie wir hinkamen, fanden wir ihn in der Stube zwischen den zwey Wiegen sitzen, wo er das Eine schaukelte, und dem Andern, das schlief, die Mücken abwehrte, derweile ihre Wärterinn den Brey zurecht machte. Unser fremdes, und vielleicht etwas zu lebhaftes Ansehen machte ihn einen Augenblick stutzen; aber Herr von Ott sagte ihm gleich? »Verzeihen Sie, mein ehrwürdiger Freund, daß ich Ihnen fremdes Frauenzimmer bringe. Aber es sind zwey Bräute, die das Bild einer ihrer künftigen Tugenden in Ihnen sehen wollen; beyde waren über ihre Menschenfreundlichkeit gegen die armen Geschöpfe entzückt, und haben die kluge Wirthschaft Ihrer Wohlthätigkeit bewundert.« – Er wandte sich gegen uns, und sagte Julien, deren Hand er faßte und küßte, da er mit der andern den Alten wies: »Meine Julie! dieses ist das überfließende Maaß von Güte eines Mannes! wie schön muß ihre Wirkung in dem Herzen der Gattinn seyn, von welcher man sie erwartet!«[288]

Von Ott hatte uns gerührt und ein wenig aus der Fassung gebracht, die die nehmliche Bewegung in uns legte; denn wir küßten beyde die Hände des Greises und die Kinder, mit dem Vorsatz in der Seele, einst gute Mütter zu werden! – Die muthwillige Frau G** rief aus: »Das ist die Stimme des Berufs!« Aber dem alten Manne liefen Zähren über die Wangen, da er uns beyde mit dem Zeichen des Kreuzes segnete. Von Ott küßte unsere Hände und sagte uns, daß er sicher wäre, wir würden diesen Beruf getreu erfüllen.[289]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 284-290.
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