Fünf und vierzigster Brief

[290] Heute, meine Mariane, hat sich der Zufall eines Gemähldes bedient; um mir schon lang erkannte und gelernte moralische Grundsätze tiefer einzuprägen, und sie in meinem Kopf und Herzen zu thätigen Pflichten zu machen! – Es war ein Meisterstück eines der größten Mahler, eine Madonna vorstellend, welche dem kleinen Jesu aus einem Körbchen einige Blumen reicht. Die Zeichnung des Kopfs, des Gesichts, des Nackens und der Hände, ist, nach Ausspruch aller Kenner, vortreflich. Ausdruck der höchsten weiblichen Tugend und mütterlicher Liebe. Rein, vollkommen, wie die hand des göttlichen Schöpfers sie in Mutter-Seelen pflanzte, liegen sie in ihrem Auge, ihrem Lächeln und Zügen. Die Schönheit der Farbenmischung schimmert aufs Aeußerste in diesem Stücke! Ich betrachtete es nach allen diesen Theilen mit innigem Vergnügen, welches der Verstand über die Größe der Kunst, und mein Herz über den moralischen Ausdruck fühlte; aber[290] mein Aug erlaubte sich Untersuchung des Ganzen, und heftete sich auf die Stücke des blauen Mantels, welchen der Künstler um den mittlern Theil der Arme geworfen hat, und die Falten davon schienen mir leer, weil ich die fortlaufende Ründung und Linien des Arms und den Bug des Ellbogens nicht darinn fand. Ich sagte diese Bemerkung einem edlen scharfsinnigen Manne, der mit uns da war. Er bestritt meine Idee in etwas, und dadurch reizte er mich, meine Kunstrichterey zu vertheidigen und zu beweisen. Er schwieg lächelnd; nur kurze Zeit darauf hatte ich an der Hand eines andern herrlichen Bildes etwas zu erinnern, und hier fiel er ein: »Immer an dem Vortreflichsten etwas auszusetzen!« Der Ton seiner Stimme und seine Miene bewiesen mir, wie sehr tadelhaft er meine genaue Berechnung der kleinen Unvollkommenheiten fand. Aber es machte keinen besondern Eindruck auf mich, weil ich dachte, daß es meinem richtig sehenden Auge wohl erlaubt wäre, das Fehlende zu bemerken; aber einige Tage hernach kam mir eine Beurtheilung meines Charakters zur Hand, die mir eben so schmerzhaft fiel, als mein Tadel über die[291] zwey herrlichen Gemählde dem Schönheit fühlenden Mann. Ich wurde auch über einen fehlerhaft scheinenden Theil hart verdammt, wo ich in der That auch nichts anders verbrochen hatte, als der Mahler, der nicht alles Schöne, so er fühlte, am Tage mahlen wollte, und sogar nicht einmal den Nachtheil berechnete, den sein Genius, durch die Sorglosigkeit seines Faltenwurfs, in dem Auge des Fehler ausspähenden Beobachters erdulden dürfte oder könnte. Ich zeige auch selten das ganze Bild meiner Seele; ich werfe auch hie und da einen Schleyer, ein Stück Mantel, über einzelne, wohl formirte und mit dem Ganzen übereinstimmende Theile. Ich denke auch nicht an die schiefen Urtheile, welche schiefe Falten hervorbringen können und müssen: und nun will ich mich hinsetzen und mich bey dem Bilde der Madonna mit dem Gefühle des Wiedervergeltungsrechts trösten! – Es giebt ein moralisches Augenmaaß für die Züge der Seele, wie ich es für die Linien der körperlichen Schönheit und Regulärität habe, und wenn ich verabsäume, den Schleyer so um mich zu winden, daß die reine Gestalt der moralischen Bildung auch durch die Decke[292] leuchte: so muß ich's leiden, daß man etwas Verkehrtes vermuthe. Denn von wem, besonders von einem Frauenzimmer, wird man vermuthen, daß sie gute und vortheilhafte Eigenschaften verbergen würde, und daß sie in dem Augenblicke, wo sie Vorzug erhalten könnte, freywillig darauf entsagt? und doch bin ich so unbillig, zu klagen, wenn mir nicht dafür gedankt wird! Aber, ich danke dem Manne, der mit edlem Eifer meine Tadelsucht bestrafte, und mir die Anweisung gab, von meinen Nebenmenschen nicht mehr zu fodern, als sie von mir erhielten. Doch, meine theure Mariane, würde ich mir's niemals vergeben, wenn meine Nächstenliebe erst durch meine Selbstliebe erweckt und thätig gemacht worden wäre. Nein, sie ist nur verträglicher geworden! Denn, in Wahrheit, ich rügte alles zu lebhaft, was außer meinem Gefühl und Ueberzeugung war. – Was kann die Feldblume davor, daß sie nicht von einem Kunstgärtner gepflegt wurde? und was für ein Recht giebt das glückliche Loos einer guten Besorgung der Gartenpflanze, die andern mit Uebermuth hager und mangelhaft zu schelten? Was mich aber recht sehr verdrießt, ist, daß[293] ich bemerke, wie durch diesen Vorgang ein Theil meiner moralischen Empfindungen sinnlich geworden ist. Denn ein Blick, den ich auf das Bild einer Madonna werfe, die in meinem Zimmer hängt, giebt mir die lebhafteste Erinnerung zu milder Beurtheilung der Fehler, die ich an andern finde. Sogar ein blaues Kleid scheint mir ein Wink zu seyn, die Behutsamkeit für mich und andre nicht aus den Augen zu setzen. Ich dachte schon, von nun an lauter blaue Armschleifen zu tragen, weil ich den Armfalten eines Mantels von dieser Farbe, eine Wiederholung der Tugendlehre zu danken habe. Doch fürchtete ich die Macht der Gewohnheit, die mich durch täglichen. Gebrauch dieses Mittels gegen seine Wirkung unempfindlich machen könnte; zumal man immer eher auf die Falten des Nächsten, als auf seine eigenen sieht. Sie wissen, ich liebte die Mahlerkunst allezeit; nun gewiß mehr als jemals, weil sie der Anlaß war, daß ich in Zukunft mit mehr Genauigkeit auf die Verbesserung meiner eigenen Fehler denken werde.

Rosalia.[294]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 290-295.
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