Vier und funfzigster Brief

[380] Frau Guden will mir alle Woche zwey Tage schenken, wo ich mit ihr essen und den Nachmittag mit ihr zubringen soll. Gestern war der erste davon, wo sie mir, wie sie sagte, den Faden gab, mit dem ich aus dem Labyrinth der Ideen kommen würde, welches ihre Erscheinung in dieser Stadt und die Muthmaßungen über sie in mir hervorgebracht hätten. Sie wäre die einzige Tochter eines deutschen Gelehrten, dessen Glücksumstände aber so gewesen, daß er sie wohl reich an Kenntnissen, aber bey mittelmäßigem Vermögen zurückgelassen hätte. Ihre Mutter wäre eine Frau voll feiner, tiefer Empfindung, ihr Vater ein feuer- und geistvoller Mann gewesen. Sie sage wir dieses, weil sie fest überzeugt sey, daß der seltsame Ton ihres Charakters aus dieser Mischung entstanden sey. Ihr Vater habe sie denken und wissen, ihre Mutter Empfindsamkeit und Wohlthätigkeit gelehret; daraus sey auch ihre schwärmerische Anhänglichkeit an edle Kenntnisse und[380] Tugend gekommen. Man habe sie Sprachen, Musik und Zeichnen lernen lassen, worinn sie es durch ihre natürlichen Fähigkeiten sehr weit gebracht. In der Zeit des Uebergangs vom großen Mädchen zur denkenden Jungfrau, in welcher Frauenzimmer catholischer Religion diese innere Unruhe und den noch undeutlichen Laut der Bedürfnisse des Herzens als den Ruf zum Klosterleben ansahen, und die ersten Aufwallungen des ganzen Reichthums der Empfindungen, zur Liebe der höchsten Vollkommenheit wendeten, in dieser Zeit hätte sie die Geschichte der Völker und Künste gelesen, Plutarchs Helden, und dann eine Beschreibung der Denkmale der Kunst, die Rom und Florenz in sich faßten. Diese hätten bey ihr die innerliche Stimme der Anhänglichkeit an ein andres Wesen, auf die Ideale von Meisterstücken der alten Welt gelenkt. Sehnsucht nach Italien hätte in ihr geglühet, wie die Begierde nach dem Schleier in einem frommen Mädchen. Während dieser Zeit hätte sie sich auch außerordentlich der Zeichenkunst, Lesung der Poeten und der Götterlehre der Alten beflissen, und immer gedacht, sich einmal bey einer Dame beliebt zu machen, die eine[381] Reise nach Rom vornehmen könnte, um mit ihr, wenn es auch als Kammerjungfer wäre, dahin zu kommen. Außer dem hätte nicht nur die ernsthafte und gründliche Erziehung, welche sie genossen, sondern auch das einsame Leben ihrer Eltern, alle Gegenstände von ihr entfernet, durch die sie zerstreut werden, oder die ihr den Genuß von Glückseligkeit auch bey andern Sachen hätten anweisen können. »Denn ich weiß aus meiner Erfahrung,« fuhr sie fort, »daß Personen, die abgesondert erzogen werden, oder auch einige Zeit so leben, nicht nur etwas eigen Ausgezeichnetes, sondern auch Eigensinniges bekommen das sie selten ablegen.« Denn in einem fühlbaren Herzen bliebe die Anhänglichkeit an Gegenständen, bey denen man das erstemal Glückseligkeit empfunden, gar lange haften. Zum Beweis diene ihr, daß ihre Mutter sie im achten Jahr das erstemal aus der Stadt geführt, und in dem Baumgarten der Bäuerinn, die ihnen Milch lieferte, in der Zeit der Blüthe, ihr Mittagessen mit der Bäuerinn Kindern gegeben hätte, wo sie dann lauter Freude und Seligkeit gewesen; und seitdem, bis auf diese Stunde, fühle sie bey dem Anblick eines[382] ländlichen Baumgartens ein süsses inniges Vergnügen, welches ihr alle Reize der Kunst und hoben Natur bey den prächtigsten Gärten, die sie auf ihren Reisen gesehen, niemals gegeben hätten. Nach dem Tode ihrer Eltern sey sie zu einer weitläuftigen Verwandtinn gekommen, bey der sie einsam fortgelebt, und in ihrem zwey und zwanzigsten Jahr das Glück erhalten habe, um ein Stück Geld, der Kammerjungfer einer großen Dame ihren Platz für die Reise nach Italien abzukaufen. Die Dame und ihr Gemahl hätten, nach zwey Unterredungen mit ihr, so viel Achtung für sie bekommen, daß sie sie auch versichert, sie sollte Frankreich und England mit ihnen durchreisen. Aus Dankbarkeit und Eigenliebe habe sie dann alle Kräfte angestrengt, in den Sprachen vollkommen zu werden, und auch reine Umrisse von Landschaften, Gebäuden und Figuren machen zu können; um durch diese Talente nützlich zu seyn, und auf gewisse Art zu vergüten, was sie ungefehr kosten könnte. Daneben hätte sie der Dame alle mögliche Dienste und Erleichterungen geleistet, und niemals wäre sie glücklicher gewesen, als auf diesen achtzehn Monate gedauerten Reisen,[383] wo alle ihre bisherigen Wünsche erfüllt, ihre Kenntnisse geübt und vermehrt worden, wo sie einen so großen Theil der Erde und deren Bewohner gesehen, und vielen Beyfall und Achtung genossen hätte. Aber da wäre es mit ihr, wie mit andern Menschen, gegangen, indem mit der Befriedigung des einen Verlangens ein neues verknüpft wurde, wogegen das Schicksal lauter Unmöglichkeiten aufhäufe. Deswegen habe sie ihm auch eine Wage gegeben.

Hier langte sie aus einem Kästchen einige Zeichnungen hervor, worunter das Bild des Schicksals war, mit einer Wagschaale voll Blumen, Perlenschnüre und einer schönen Vase; in die andre Schaale legt es Dornen, Steine und Fesseln. Eine schöne weibliche Figur kniet vor dem Altar, wo dieses Wägen vorgeht, und zeigt mit dem seitwärts gesenkten Kopf, und ihren, mit vieler Grazie auf ihrer Brust sich faltenden Händen, Dank für die Blumen, und neben dem Abwenden von der dornerfüllten Schaale, ruhige Unterwerfung.

Da ich das Bild so ausdrucksvoll fand, sah ich mit Rührung sie an. Sie küßte mich und sagte: »Ja, mein Kind, hier fingen die[384] Schmerzen meines Lebens an. Ich hatte Güter geliebet und gewünscht, die ich bis dahin kannte; ich genoß sie reichlich; denn nicht nur das Schöne, so ich zu sehen verlangt, freute mich, sondern auch die Lobsprüche, die ich für meine Talente erhielt. Denn in Rom übte ich mich im Singen und Clavierspiel; ich schrieb unser Tagebuch und zeichnete auf halbe Bogen, was mir, der Dame oder ihrem Gemahl besonders gefiel. Unser Anführer erzählte es Fremden, die dann sich um uns sammelten, wohin wir gingen und ich meinen Bleystift nahm. Ein edler Fremdling, der auch alles mit dem Auge des Geistes betrachtete, suchte unsere Bekanntschaft. Ernstes, aber sanftes Wesen, hoher Adel der Seele, tiefe Gelehrsamkeit in allen Theilen schöner Kenntnisse, eine vortrefliche Gestalt, und nur sechs und zwanzig Jahr alt, waren in ihm mit dem empfindlichsten Herzen, Bescheidenheit und den reinsten Sitten verbunden. Mein Zeichnen wurde sehr von ihm geachtet; doch bemerkte ich dies mehr aus seinen Blicken als seinen Worten. Er fragte nur nach dem Ort, wo ich es gelernt, und wo ich erzogen worden.[385] Meine Dame wies ihm das Tagebuch und die Zeichnungen. Ihr Gemahl erzählte ihm meine Geschichte, wie sie es nannten; und den Abend, da ich fertig war, das Merkwürdige des Tages aufzuschreiben, führten sie ihn in mein Zimmer, und sagten: Herr von Pindorf müsse mit all meinen Talenten bekannt werden; ich sollte doch etwas auf dem Spinetchen spielen und singen. Er machte nur eine Verbeugung. Aber ein flüchtiger Blick, den er gleich wieder von mir wandte, dünkte mich vieles zu sagen. Ich sah auch nur meine Dame, aber mit Erröthen an, wovon sie den Sinn nicht verstund; denn sie sagte freundlich: ›Meine Liebe, ich verspreche Ihr, daß Sie diese Gefälligkeit für Niemand anders haben soll.‹ – Ich spielte und sang sanfter als jemals, sah aber nicht um mich, sondein allein auf meine Noten. Er sprach, nachdem ich geendigt, und er mir höflich gedankt hatte, von den Grundsätzen der Musik, sah mich auch nachgehends niemals allein, außer ein einzigesmal in Frankreich, da er Abschied von uns nahm, um zu Hause seine Verbindung zu vollziehen. Auf der Reise[386] nach England war er eigentlich eine Art Lehrmeister für uns alle, in der Natur- und Landesgeschichte. Er saß oft ganze Stunden lang in sich selbst gekehrt, bis ihn eine Frage von mir, oder ein Ausruf über etwas, so mir hie und da als merkwürdig vorkam, aufweckte; denn er hatte diese Aufmerksamkeit allein auf meine Stimme. Alles blieb in meinem Gedächtniß, und ich wurde in Kenntnissen, die er vorzog, am stärksten. In dem Garten zu Stow zeichnete ich sein Bild, wie er, an einem Baum gelehnt, mit meiner Dame redte, die mit ihrem Gemahl auf einer Moosbank saß; und Herr von Pindorf seine Augen auf den Tempel der alten Tugend, welcher uns gegenüber war, mit vielem Ausdruck heftete. Als ich die ganze Gruppe zusammen gefaßt hatte, waren sie alle sehr vergnügt, und ich mußte endlich mich selbst dazu setzen, mit meinem Bleystift und der Anzeige des Ganzen. Davon erhielt Herr von P** das Urbild. –

Eilf Monat war er immer um und mit uns gewesen. Ich hatte tausendfache Beweise seiner Hochachtung und Liebe für mich bemerkt, und ihm gewiß eben so viel zu[387] erkennen gegeben. Dies Bündniß unserer Seelen war desto stärker, da wir es nicht in der gewöhnlichen Sprache ausdrückten. Den zweyten Tag in Brüssel wurde ihm nicht wohl; er sah auch bis den zehnten, wo er abreisete, ganz hinfällig aus; war nur Augenblicke um uns, und dies mit ängstlicher Unruhe. Mein Herz litt die äußerste Marter. Den nennten Tag war ich allein. Herr von P** trat in mein Zimmer, näherte sich mir mit wankenden Schritten. Ich stund bebend auf. Er faßte meine Hand, sah mit schwermuthsvoller Zärtlichkeit mich an, konnte nicht gleich reden. Endlich sagte er: ›Beste, edelste Seele! Einmal, ach, nur einmal lassen Sie michs sagen, daß ich diese Leidenschaft niemals, als für Sie, gefühlt habe. Gott mache Sie glücklich! – O, wie sehr wird es der seyn, der Ihnen Hand und Herz anbieten kann! – Hofen, theure Hofen, warum hab' ich Sie kennen lernen!‹ – Und dann umarmte er mich, und ich ihn, mit einem: Gott segne Sie! – Dann riß er sich los, und reisete den Augenblick ab. –[388]

Zween Monat hernach erfuhr ich die, nach dem Willen der Seinigen, vollzogene Verbindung; aber keine Briefe, keinen Laut von ihm. – Rosalia! man muß meine Seele haben, um alle das Zerreissende zu fühlen, so ich fühlte. Alles vorher besessene und genossene Glück war für mich hin. Ich hatte Sympathie und Liebe kennen lernen: mittelmäßig konnte keine Bewegung in mir seyn. – O, Rosalia! möge es keine Seele mehr erfahren! –

Wir kamen nach Holland. Dort lernte ich van Guden kennen. Dieses erzähle ich Ihnen das nächstemal, und dann werden Sie mich selbst ganz kennen.« –

Ich verließ sie traurig, aber sie sagte, es wäre ihr doch süß. Adieu![389]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 380-390.
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