Fünf und funfzigster Brief

[390] »Liebe Rosalia!« sagte Frau Guden, als sie mich wieder sah, »zu was haben Sie mich gebracht, daß ich Ihnen alles so erzähle?« – Ich wollte antworten, aber sie ließ es nicht zu.

»Sagen Sie mir nichts darüber. Habe ich nicht die Erleichterung genossen, zu reden? von meinen Talenten und meinen Leidenschaften zu reden? Ich bin überzeugt, es thut unserer Seele eben so wohl, von den Fesseln des Zwangs und des Verbergens ihrer eigentlichen Gesinnungen befreyt zu seyn, als es den Händen und Füßen eines unglücklichen Kettenträgers gut thun muß, wenn er auf einige Zeit sich losgeschlossen fühlt.« – »Liebe Madame Guden! Das Gleichniß, dessen Sie sich bedienen, macht mir Schauder. Ketten und Fesseln verwunden oft stark. Ich hoffe, daß es mit Ihrer Seele nicht so seyn möge.« – Sie lächelte und sagte: »Wer weiß, was für Striemen Sie finden würden, wenn sie sichtbar[390] wäre.« – Sie zeigte mit den übrigen Vormittag ihre Sammlung von Kupferstichen, die ganz entzückend schön ist; lauter Charakterstücke, Landschaften, und alles, was im Griechischen Geschmack heraus gekommen ist. Alle Stücke, die sie doppelt hatte, gab sie mir.

Nach dem Essen, da ich sie den Caffee so langsam und tiefsinnig einschlürfen sah, dachte ich, es würde ihr hart seyn, mir weiter zu erzählen, und sagte, ich wolle bis ein andermal warten. »Nein, Rosalia! Ich will Ihre Begierde und Erwartung nicht täuschen. Kommen Sie mit mir auf meine kleine Bank am Fenster in den Garten. Wenn er schon entlaubt und welk aussieht, so ist doch ein großes Stück freyes Feld und freyer Himmel vor uns, deren Anblick mir sanfte Erinnerungen geben wird, wenn ich über Etwas herbe Empfindungen haben sollte. Ich hätte letzthin gern gewünscht, Alles auf einmal gesagt zu haben, denn ich bin die zwey Tage über nicht glücklich gewesen. – Nun, Rosalia! wir durchreiseten Holland. Da wurde meine liebe Dame krank, und dieses gleich anfangs bedenklich. Der Arzt, den man rufte, war ein sehr geschickter, aber[391] etwas alter und kränklicher Mann, den wir aber bey Erzählung der Lebensart der Dame, wonach er sich erkundigte, ganz ungemein munter und freundlich machten. Er dächte einige Augenblicke nach, und sagte dann: Die Krankheit der schätzbaren Dame wird stark werden. Sie wird alle Momente meine Sorge nöthig haben, die ich auf das treueste für sie tragen werde. Aber ich bin seit einigen Jahren kränkelnd, und habe daher bey Nacht für keinen Menschen mehr einen Fuß aus dem Hause gesetzt. Es würde meine Mitbürger verdrießen, wenn ichs für Fremde thun wollte. Aber ich weiß ein Mittel. Mein Haus ist groß, und wohl eingerichtet. Ziehen Sie, bis die Kur vollendet ist, zu mir; da kann ich zu allen Stunden meinen Rath ertheilen, und Sie werden die meinigen durch Ihren Umgang verschönern; denn Sie haben Ihre Reisen auf die nemliche Art gemacht, wie ich. Sie sollen meine alten, und ich will Ihre neuen Tagebücher lesen. Da wird unsere liebe Kranke zerstreut werden, und ich sehr glücklich leben.[392]

Er machte dabey einen so großmüthigen Preis für Kost und Wohnung, daß wir sein Anerbieten von Herzen annahmen, und über zween Monat bey ihm recht sehr zufrieden waren.

Die Dame hatte sich langsam erholt, und war noch sehr schwach, als sie die Pocken bekam, und daran starb. Ich war untröstlich; denn sie war äußerst liebenswürdig, und ihr hatte ich die süßeste Freude meines Lebens zu danken. Sie hatte mich mit Edelmüthigkeit behandelt. Ich war ihre Vertraute und an ihren Umgang gewöhnt. Durch sie hoffte ich auch wieder in Verhältniß mit Herrn von Pindorf zu kommen, denn ich wollte nicht mehr von ihr, sondern unverheyrather bleiben. Aber Ruhm war mein Plan, um immer in der Hochachtung des Herrn von Pindorf die vorzüglichste Stelle zu erhalten. Alle dies war nun wieder zerstört, und ich sehr niedergeschlagen. Der Graf von W** blieb auch als Wittwer noch drey Wochen da; brachte alle mögliche Augenblicke bey mir zu, und redte da von seinen zwey Söhnen, seinem großen Vermögen, dem Widerwillen, so er[393] fühlte, nach seinem Wohnsitz zurück zu kehren, und bat mich, ihm einem Rath nach meinem Geschmack zu geben, und was ich an seiner Stelle thun würde. – Ich sagte ihm, zwey Plane würden mir Trost geben; einer, auf meinen Gütern die größte Ordnung und die glücklichsten Unterthanen zu machen; oder mich irgend in einer Hauptstadt niederzulassen und nach meiner Erfahrung und Einsicht die Erziehung meiner Söhne und Ihr Glück zu besorgen. – Er ersuchte mich, ihm diese beyden Entwürfe aufzuschreiben. Ich that es, und da entstunden zwey Ideale von Glück und Tugend, wie sie in einer edeldenkenden Seele sich darstellen, sobald sie sich ein freyes Feld zu ihren Handlungen öfnet. Der Graf dankte mir sehr dafür, zeigte sie den Herrn van Guden. Dieser sagte mir Abends, da der Graf ausgegangen war: ›Mademoiselle! Sie haben dem Grafen zwey vortrefliche Aussichten für seine künftigen Tage vorgelegt. Er wird Ihnen Morgen darauf antworten. Werden Sie mir danken, wenn ich Ihnen heute noch sage, daß er Sie einladen wird, die Ausführung des zweyten Plans mit ihm zu theilen?‹[394]

Ich sah den van Guden mit erstaunten Augen an, und fragte ihn, wie er das verstünde?

›Ganz einfach,‹ sagte er. ›Der Graf liebt Sie, und wird Ihnen vorschlagen, mit ihm in der Stille vermählt zu werden. Hernach geht er auf seine Güter, holt seine beyden Söhne ab, und sie gehen alle mit einander nach Frankreich, wo Sie ihm seine Kinder erziehen helfen, und durch Ihren Geist und Talente immer die ausgesuchteste Gesellschaft zuziehen werden.‹

Ich konnte gar nicht sprechen, sondern starrte ordentlich den guten Mann von Kopf zu Füssen an. Er hielt es für das Staunen der Freude, und setzte hinzu: Der Graf hat Recht. Alle feindenkende und edle Leute werden Sie lieben und ehren. Ich sah diese Gesinnungen in ihm, da noch seine Gemahlinn lebte.

›Ich danke Ihnen, werther Herr van Guden, daß Sie mir einige Nachricht von dieser sonderbaren Idee des Grafen gegeben haben. Denn nun kann ich ihm mit so viel mehr Ruhe und Ernst meine völlig abschlägige Antwort geben.‹[395]

›Abschlägige Antwort!‹ wiederholte er. ›Denken Sie diesen Abend noch darüber nach, eh Sie diese Vortheile verwerfen.‹ – Und da ging er von mir.

In der That schickte mir der Graf den andern Morgen früh ein versiegeltes Paket, mit der Aufschrift: à Mademoiselle de Hofen, worinn Alles, was er zu meinem Vortheil und seinem Glück dachte, dargestellt war. Die Aufschrift, de Hofen, diente schon zu einer kleinen Leitersprosse, die mich meiner künftigen Höhe nähern sollte. Er hatte sich zugleich ausgebeten, mit mir zu frühstücken. Ich kleidete mich, so eilig ich konnte, völlig an, weil ich in einem Morgenkleide zu vertraut ausgesehen hätte. Meine ehrerbietigen Verbeugungen machten ihn gleich stutzen, aber doch nur Zweifel, und kein entschlossenes Nein erwarten. Er bat lange, jammerte, zürnte, und sagte mir endlich: ›Er müsse es sich gefallen lassen, daß der Stolz auf meine Talente ihm diese unerwartete Bewegung zuzöge; und er müsse mir nun die, von meiner Vaterstadt eingelaufenen Briefe, über den Zustand meines Vermögens, in dieser unangenehmen Gelegenheit[396] übergeben, die erst mir nach der Trauung, mit dem bestimmten Brautschatz, und dem mir ausgemachten schönen Wittwengehalt, hätte einhändigen wollen; es wäre ihm ungeachtet meiner üblen Bewegung unerträglich, die Person, die ihm seit zwey Jahren so werth geworden sey, im Mangel zu sehen; er bäte mich nochmals, seine Anträge zu überlegen, und ihm darüber zu schreiben.‹

Ich will,« fuhr sie fort, »meine Betrachtungen und damaligen Gedanken nicht wiederholen. – Er reiste den nemlichen Abend noch weg, ohne mich zu sehen, und ließ mir die Kleider und daß Weißzeug seiner Gemahlinn, zur Belohnung für die Krankenpflege; und, in der Bosheit, auch meine Zeichnungen und das Tagebuch der Reisen, indem er nur von letztern bey dem Herrn van Guden eine Copie begehrte, aber nicht von meiner Hand.

Sehen Sie nicht, Rosalia, aus diesem Zuge seines Charakters, wie glücklich mein Herz mich schützte; denn dies allein war Ursache, daß ich den Plan des Grafen verwarf. Er war schön, geistvoll, und von einem erhabenen Stande. Von P** hätte[397] glauben müssen, daß Liebe und Eitelkeit mich zu diesem Bündniß geführt hätten. Ich aber wollte Niemand lieben, als ihn, und seine Hochachtung behalten. Ich hatte also das Vergnügen, ihm ein Opfer gemacht zu haben, und genoß es desto reiner und stärker, da Niemand es wußte, denn ich.

Den zweyten Tag nach der Abreise des Grafen war ich in einer neuen Verlegenheit. Wo sollte ich hin? Mein ganzes Vermögen bestund in vier hundert Gulden, nach dem Verlust, den mir mein Verwandter zugezogen. Die Kleider der Dame und meine betrugen wenig; denn wir hatten beyde auf den großen Reisen nur einen Koffer. Das Beste, so ich von ihr hatte, war eine von Golddraht als Körbchen geflochtene Zuckerdose. Ich war nachdenklich bey unserm Frühstück. Van Guden ging aus, kam spät und müde, aber sehr munter, zum Mittagessen zurück. Ich hatte mich indessen vorbereitet, mit ihm zu reden, und fragte, ob er mich eine halbe Stunde anhören wolle? – ›Ja,‹ sagte er, ›der Nachmittag ist ganz für Sie. Ich habe heut eine Arbeit gethan, die mich freut.‹ –[398]

Ich erzählte ihm mein Leben, meine Umstände und den Wunsch, als eine Hülfe, die Erziehung eines jungen Frauenzimmers zu besorgen! ob er nicht durch seine Freunde mir einen solchen Ausweg verschaffen könnte. –

Hier traten dem vortreflichen Mann Thränen in die Augen, wobey er dann noch lächelte, mir die Hand reichte, die meinige eine Zeitlang stillschweigend hielt, und mich so ansah, als fragte er: Wie wirst du das aufnehmen, was mein redlich Herz dir sagen wird?

Endlich dankte er mir für mein Vertrauen, lobte den Entschluß, meine Talente dem mühseligen Geschäfte der Erziehung zu widmen; aber dies wäre ein Glück für ihn; denn, da ich mich mit aufwachsenden Kindern hätte plagen wollen, von denen ich einen sehr ungewissen und späten Dank zu erwarten hätte, würde ich vielleicht durch eine großmüthige Wendung dieses Gedankens, die nemliche Geduld und Sorge für einen, aus Alter sich der Kindheit wieder[399] nähernden Freund haben, der es mit aller Treue und Empfindung der Dankbarkeit erkennen würde. – ›Bleiben Sie,‹ sagte er, ›eine Viertelstunde hier, und lesen diese Aufsätze mit Nachdenken durch, und antworten Sie eben so wahr, eben so freymüthig darauf, wie Sie dem Grafen antworteten;‹ – und da ging er auch weg. – Urtheilen Sie von meiner Rührung über diese Papiere.«[400]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 390-401.
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