Sieben und funfzigster Brief

[410] »Der Zufall brachte mich in die Residenz des Fürsten von ***, und ich nahm mir vor, den Winter da zuzubringen. Herr von P** kam auch dahin. Er war Wittwer. Ich beobachtete ihn in der Oper, beym Ball und Concert; aber ich hatte den Schmerz, ihn mit der tändelnden Artigkeit bey Damen zu sehen, die jeder alltägliche junge Mann in der großen Welt zeigt. Es schien mir der hohen Würde, die ich seiner Seele beylegte, unanständig. Von P**, den ich verehrte, anbetete, zum galanten Schwätzer erniedrigt! o, meine Freundinn! es zerriß mein Herz, und war mir Ueberzeugung, tödtliche Ueberzeugung, daß er mich nicht mehr lieben, ich ihn nicht mehr anbeten könne. – Hätte er dieses Betragen, diesen Ton seiner Gesinnungen gehabt, als ich ihn kennen lernte, so würde mein Glück und meine Ruhe nicht in die Gewalt meiner Leidenschaft für ihn gekommen seyn. Meine verfeinerten Empfindungen und meine[410] Eigenliebe litte die Marter. – Beleidigter Stolz und Zärtlichkeit führten mich auch von dort hinweg. – Ich wollte mich wieder Aachen nähern; im Durchreisen gefiel mir die Lage dieses kleinen Vorstädtchens. Ich sah die Dürftigkeit der Einwohner. Ach, sagte ich, diese fühlen keine andere Uebel, als Mangel an Nahrung und Kleidern. Glückliche! ich will eure Wünsche erfüllen, aber nichts geben, als was in euren kleinen Gesichtskreis gehört. – Ich blieb hier, und that, was Sie gesehen haben. Die große Geschäftigkeit, in der Sie mich fanden, kann Sie von der innern Unruhe meiner Seele urtheilen lassen; denn die Stärke der Hülfsmittel ist der sicherste Beweis von der Größe des Uebels. –

Sie werden ganz natürlich finden, daß die Empfindung für das Schmerzhafte und Schlechte eben so stark in mir seyn muß, als der Enthusiasmus für das Gute und Edle ist. – Die große Welt hatte das Götterbild meines Geliebten verstümmelt. Mein Unmuth suchte den Tempel zu zerstören, den ihm meine Verehrung in meiner Seele erbauet hatte; aber die Grundlage des Glücks[411] meines Herzens ging zugleich damit verlohren. – In dem Kreise meines Standes war ich mißkannt und verwundet. Ich wollte nichts von beyden mehr sehen: – Das Gebiet der Kenntnisse und Empfindungen war mir zuwider geworden, weil meine Rechnung auf Ruhm, Liebe und Freundschaft, die sie mir erwerben sollten, auf nichts herunter gekommen war. Ich mußte mich aber beschäftigen, mich aus, mir selbst hinausführen, und einen Gegenstand haben, dem ich meine Liebe geben konnte. Der bittre Verlust alles dessen; worauf ich bisher das Gepräge meiner Glückseligkeit und meines Vergnügens gesetzt hatte, machte mich um so viel mitleidiger gegen die Seufzer des Mangels, die ich aus der Brust dieser guten Leute empor steigen sahe. Die herzliche Erleichterung, so ich bey dem Entwurf meiner Hülfe fühlte, und die ersten Thränen der Freude, die über die Wangen meiner Wirthinn flossen, als ich ihr davon redte, befestigten mich darinn. Ich weinte mit; und glauben Sie, meine Freundinn, die Thränen, die wir über fremdes Elend weinen, sind lindernder Balsam auf die Wunden unsers[412] Herzens. – Der gute Fortgang aller meiner Anstalten gefiel mir. Ich konnte wieder singen und Clavier spielen. Den Tag über besuchte ich meine Leute, Abends las ich und übte meine Musik. Ich wollte nichts, als Reisebeschreibungen, weil ich nur die physische und materielle Welt vor mir wissen wollte; denn ich war mit jedem moralischen Begriff der andern mißvergnügt und im Streite. Dennoch fing ich an, mir zu sagen, daß, wenn das Schicksal die Wünsche meiner Liebe befriediget hätte, so wäre dieses das Glück einer einzelnen Person gewesen; diese dreyzehn Familien würden noch darben, und ich würde von meinem Wohlstand keinen so entzückenden Genuß von Seeligkeit empfunden haben, als mir jetzo jeder Blick auf Eltern und Kinder giebt. – Aber als das letzte Haus in Ordnung war, und ich meinem Geben und meinen Arbeiten ein Ziel setzte: so entstund aus der Ruhe wieder das Gefühl von Leere. – Sie erschienen mir. Ich bemerkte in Ihnen alle Eigenschaften, die ich bisher vergebens gewünscht hatte. Dennoch kämpfte ich gegen meine Neigung für Sie. – Ich las zu[413] meiner Zerstreuung, und als Probe eines neuen moralischen Hülfsmittels, einen Auszug der Kirchen- und Staatsgeschichte. Hier schöpfte ich Stärke und vernünftige Befriedigang, und ich söhnte mich mit der ganzen Erde aus. – Der zu allen Zeiten ungleiche Gang des menschlichen Geistes auf dem Wege der Wahrheit und Natur; das Abweichen davon und Beharren auf Irrgängen; das traurige Schicksal so vieler edlen Menschen; die große Gewalt, welche ganz kleinen Ursachen gegeben war, und der Beweis, den ich fand, daß in der physischen und moralischen Welt alles mögliche Gute und Böse, in einem gleichlaufenden Zirkel des Entstehens, Wachsens, Abnehmens und Verwandelns, unsern ganzen Erdball umgiebt; – diese Betrachtung besänftigte mich ganz, und führte mich zum Nachdenken über mich selbst. Ich gestund mir, daß ich gewiß vieles in meinem Wesen hätte, so Andern eben so stark gegen ihre Begriffe des Liebenswürdigen und Angenehmen liefe, und ihnen auch eben so viel Mißvergnügen geben müsse, als sie mir. Diese Gedanken setzten und ordneten[414] sich je mehr und mehr in meiner Seele, und näherten mich Ihnen. Mein Herz war freylich von der übenden Wohlthätigkeit und dem Glück, so ich genießen machte, erfüllt; aber es war was in mir, das mich trieb, den Frieden, den ich mit allen meinen Nebenmenschen geschlossen hatte, bekannt zu machen, und mein Kopf hatte nöthig, mit Jemand umzugehen. Sympathie sprach für Sie. Ihre Freundlichkeit, die der arme Schuhmacher mir so lobte; die Verlegenheit, in der die guten Leute zwischen Ihnen und mir, wegen der Gevatterschaft waren; die Mühe, die Sie sich nahmen, das Kind selbst aus der Taufe zu heben, anstatt eine Magd zu schicken; Ihre Anrede an die Wöchnerinn; die Freymüthigkeit, mit der Sie mich die Begierde merken ließen, mich näher zu kennen; Verehrung und Anhänglichkeit, die Sie mir in gleichem Grade zeigten; Aussicht auf Genuß einer edlen Freundschaft; Bedürfniß dieses Glücks, Vergnügen, so ich Ihnen damit machte, öfnete Ihnen mein Herz, je mehr ich den Werth des Ihrigen kennen lernte, – vielleicht auch, weil Sie[415] etwas eben so Sonderbares haben, als ich selbst.

Dennoch, meine Liebe! wenn Einer meiner Vorstädter über Sie geklagt hätte, wenn ich nicht das redliche Lob der guten fremden Jungfer von Ihnen gehört hätte: so würde ich auf das Vergnügen Ihres Umgangs Verzicht gethan haben; denn ich wollte nichts von der ganzen Liebe und dem Vertrauen dieser Leute verlieren. – Das Volk hat richtiges Gefühl von Tugenden und solchen Eigenschaften, die einen wirkenden Einfluß auf ihr Wohl haben. Deswegen lieben sie den gerechten, uneigennützigen, leutseligen Mann; den Wohlthätigen und den Tapfern, der das Vaterland vertheidigt; den Prediger, den Beichtvater, die um ihre ewige Wohlfahrt beschäftigt sind; den Vornehmen, der mit Güte und Achtung sie ansieht und behandelt. Aber die größte Gelehrsamkeit und das höchste Maaß der Kenntnisse des Geistes sind für sie verlohren. Was wollten sie auch damit thun, die guten Leute? – Und mir, mein Kind, mir war es Bedürfniß, daß Jemand[416] mir sagte: Ich schätze Ihre Talente und Ihr Herz. – Dieses mußte ich von Jemand hören, dessen Geist und Seele meine ganze Hochachtung verdiente. –

›Haben Sie Dank,‹ sagte sie mir, mit einer zärtlichen Umarmung, ›daß Sie diese Freude mir gegeben haben.‹« –[417]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 410-418.
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