Sechs und funfzigster Brief

[401] Frau Guden fuhr fort zu erzählen: Es wäre ein Schreiben an sie gewesen, worinn er ihr sagte, der Graf habe ihm Nachricht von dem Verlust ihres kleinen Vermögens gegeben; dies habe seine lebhafte Theilnehmung vermehret und ihm die Begierde eingeflößt, Etwas zu ihrem Glück zu thun. Bald wäre es der Gedanke gewesen, sie an Kindes Statt aufzunehmen; bald, ihr einen Theil seines Vermögens zu geben. Da aber bey diesen Gedanken Anlaß zu Spöttereyen und Mißvergnügen gewesen wäre: so hätte er gewünscht, daß sie sich entschließen könnte, ihm für die noch wenigen Tage seines Lebens ihre Hand zu geben. Auf diesen Wunsch hin habe er heute früh mit einem Freunde sein Testament entworfen, welches in vier Theile richtig und unverwerflich geschieden sey: einer für alte und kranke Arme; der zweyte für seine schätzbare Frau; der dritte für seine Verwandten, und der vierte für die Verwandten seiner ersten Frau. Unter diese Beyden vertheile[401] er auch sein Haus und die Gemählde, wie auch das große Landguth, unweit der Stadt. Sie solle, weil sie Kupferstiche liebe, seine Sammlung haben, und sonst alles an Capitalien in der Bank, was ihren vierten Theil betreffe; denn das, was er ihr an Silber und einigen schönen Diamanten geben würde, wäre nur das gewöhnliche Brautgeschenk. – Sollte ihr dieser Vorschlag, der freylich der eigennützigste für ihn sey, nicht gefallen, so solle sie nur einen Riß in sein Testament machen und sich nicht mit Entschuldigungen oder Ursachen plagen, sondern ihm den Trost gönnen, sonst ein Geschenk von ihm anzunehmen, wodurch sie unabhängig leben könnte. –

Dieser Antrag hätte ganz andre Bewegungen in ihr hervorgebracht, als des Grafen seiner; er schien ihr redlicher und großmüthiger. Doch hätte sie sehr geweint, ihre Lieblingsidee aufzugeben, die sie gehabt, für das Andenken des Herrn von P** zu leben. Doch habe das Bild der wahren Güte des herrlichen alten Mannes, und der Gedanke, ihm durch die Erfüllung seines letzten Wunsches die Freude zu geben, eine glückliche Person nach sich zu lassen; dann die Betrachtung,[402] daß Herr von P** ohnehin verbunden, und sie ohne alle Aussicht, weder auf ihn noch sonst wo, wäre, gesiegt; so hätte sie sich gefaßt und wäre hingegangen, ihn in seinem Cabinet zu suchen. Er wäre aber in seinem großen Gemähldezimmer vor einem Tisch gestanden und habe ihre Zeichnungen vor sich durchblättert. Als er sie an der Thür erblickt, wäre der liebe Mann so erschrocken, daß er blaß worden, sich geschwind gesetzt, und seinen Kopf aufgestützt hätte. Sie wäre zu ihm geeilt, hätte ihn bey der Hand genommen: »Warum erschrecken Sie über mich? Wenn Sie Ihr Vorschlag reuen sollte, lieber Herr van Guden, so werde ich nicht klagen, sondern Sie dennoch, als meinen würdigsten Freund, verehren.« –

»Gereuen!« sagte er; »Gott gebe, daß Ihre Gefälligkeit Sie niemals reuen möge.« –

Sie wären in der Stille getrauet worden, und hätte ruhige Glückseligkeit genossen; und vier Jahre hindurch habe sie drey junge Frauenzimmer von seinen beyderseitigen Verwandten um sich gehabt, und sie erzogen. Eine davon hätte van Guden selbst noch ausgestattet,[403] und an einen jungen Arzt, den er gebildet hatte, verheyrathet. Die beyden letzten Jahre seines Lebens hätte er keine Kranke mehr besucht, und alle Sommer auf einem Landhause gewohnt, wo er einen schönen botanischen Garten angelegt hatte, und worinn sie eines Tages alle ihre Zeichnungen, aber nur als Zeichnung in Oel gemahlt gefunden habe. Ein Jahr vor van Gudens Tode wäre ihr Herr von P** erschienen. Just da sie Morgens mit ihren drey Schülerinnen nach einem Gartenhause gegangen sey, um dort zu arbeiten und zu lesen, habe sie von weitem bey den botanischen Beeten eine Gestalt zu sehen geglaubt, die vollkommen der seinigen geglichen. Dies habe sie äußerst bewegt, und dazu gebracht, nicht umzusehen und nicht zu fragen, sondern diese Erinnerung zu unterdrücken und ihre gewöhnliche Morgenarbeit zu halten. Darauf hätten ihre Mädchen gelesen und sie mit ihnen gesprochen. Ungefähr nach einer halben Stunde wäre sie aufgestanden, um etwas an der Stickerey eines der Mädchen zu besehen. Hier erblickte sie durch die Gitter, daß zwey Mannsleute auf der Bank bey einer grünen Wand hinter dem Gartenhause saßen.[404] Da wäre ihre Neugier erweckt worden, in dem kleinen innern Cabinet zu sehen, ob es nicht der Fremde wäre. – Ich möchte mir selbst vorstellen, wie ihr zu Muthe gewesen, als sie Herrn von P**, ganz blaß, auf das Fußgestell einer Statue gestützt, da sitzen sah. Der junge Medicus, der ihn bey den Kräutern herumgeführt, habe ihm zugeredet, sich in das Haus des Herrn van Guden führen zu lassen und da etwas zu sich zu nehmen, weil ihm von der Sonne und dem langen Gehen so übel wäre; Madame van Guden sey eine sehr liebenswürdige Frau, von dem besten Herzen und einem großen Geiste, rede verschiedene Sprachen, habe schöne Reisen gemacht; alle Fremde bewunderten sie, wegen ihrer Talente in der Musik; sie sey auch schön und jung, doch müsse man sagen! daß sie ihrem alten Manne die vollkommenste Achtung und Zärtlichkeit beweise, und daß der artigste junge Mann sich nicht eines Blicks oder eines Worts rühmen könne, welches nur einen Schatten von Gefälligkeit anzeigen würde, ungeachtet Jedermann wisse, daß sie den van Guden nur aus Armuth, nicht aus Liebe, geheyrathet habe. Sie wäre von Reisenden in seinem[405] Hause zurück gelassen worden, und der Alte befinde sich in ihrem Umgange herzlich wohl; sie wäre auch aus Hochdeutschen Landen; er solle nur mit ins Haus kommen, es würde ihn nicht gereuen. – Sie zitterte vor Angst, von P** möchte ihm folgen, und sie nicht im Stande seyn, ihr Herz zu verbergen; doch hätte es sie unendlich gefreut, daß er so viel Rühmliches von ihr hätte sagen hören. – Auf einmal wäre er, ohne eine Silbe zu antworten, aufgestanden und aus dem Garten fortgeeilt. Der junge Docter hätte ihm ganz erstaunt nachgesehen, den Kopf geschüttelt und bey sich selbst gesagt: Der thut wohl, daß er zu Engländern geht, denn er ist ein spleenetischer Narr. – Als sie ihn aus dem Gesicht verlohren, sey ihr Herz ganz schmerzhaft gepreßt gewesen; ohnmächtig wäre sie nicht geworden, aber auf ihre Knie gesunken, ihre Arme ausgestreckt: »Er liebt mich noch!« wäre ihre Erquickung gewesen; »Gott erhalte und bewahre ihn! – Ach, was bin ich?« hätte sie sich selbst gesagt; und sie gestund; daß sie damals über ihre Heyrath mißvergnügt gewesen sey und aufs Neue gefühlt habe, daß jede Neigung, jeder Wunsch ihrer Seele in[406] von P** vereinigt wäre. Doch habe sie sich überwunden, nicht nach ihm gefragt, und sich Mühe gegeben, Herrn van Guden in allem, was er nach seinem Charakter liebte, jeden Augenblick seiner Tage zu erfüllen, um ihn dadurch für das schadlos zu halten, was ihrem Herzen an der Zärtlichkeit der Liebe mangelte. Er wäre auch innig zufrieden mit ihrem Bezeigen gegen ihn und mit ihrem ganzen Lebenswandel bey ihm gestorben, und habe sie als eine reiche, unabhängige Frau zurückgelassen. Unmöglich habe sie nach seinem Tode länger da wohnen können, sondern wäre, nach Sicherstellung ihres Vermögens, nach Aachen gereiset, um da ihre Gesundheit wieder ganz herzustellen, und auch, weil sie dachte, sie könne dort, wo ein Zusammenfluß von so vielen Fremden aus allen Landen sey, etwas vom Herrn von P** erfahren. Dies sey auch geschehen. Ein deutscher Edelmann hätte ihr gesagt, daß er drey Kinder habe und meistens auf dem Lande ohne viele Gesellschaft lebe. »Meine Freyheit,« fuhr sie fort, »gab mir kein Recht, Wünsche oder Ansprüche auf mein Herz zu machen. Ich war unfähig, einen Gedanken zu haben, ihn[407] von seiner Verbindung zu entfernen. Ich versagte mir alles, was nur im mindesten dahin zielen konnte; nur wünschte ich, von Zeit zu Zeit zu wissen, wie es ihm ginge. Ich durchreiste einige Gegenden von Deutschland, besonders wo Höfe waren, um so viel möglich alle Stuffen der Vollkommenheiten und Fehler meiner Landsleute zu bemerken. Endlich setzte ich mich in der Hauptstadt meines Vaterlandes fest, miethete ein Haus, machte Besuche, nahm welche an, legte mit Vergnügen einen Theil meiner Renten und meiner Talente zur Verschönerung des gesellschaftlichen Lebens unter meinen Bekannten an. Ich war in meiner Kleidung aus zwey Ursachen äußerst bescheiden und einfach; einmal, weil ich dem Putz keinen Vorzug schuldig seyn wollte, und dann, weil der Mann, dem allein ich zu gefallen wünschte, mich nicht sahe. Da ich aber ungeachtet dieser Versäumniß des Putzes gefiel, mußte ich mich einer ausgedachten Coquetterie beschuldigen lassen. Ich schätzte lebhaft alles Gute, so ich fand; aber wie wurde mein Gefühl zurück gescheucht und verwundet! Die Wahrheit und Stärke meines[408] Wohlwollens wurde verspottet, meine Kenntnisse lächerlich gemacht. Liebenswerthe Frauenzimmer, denen ich meine ganze Seele gab, erwiederten mirs kalt. Ein Mann von feinem Geist, den ich wahrhaftig hochschätzte, mißhandelte meinen ganzen Charakter. Meine Freymüthigkeit, meine ganz wahre Seele wurde mißkannt und mißdeutet. Ich sah so viel kleine Pfeile gegen mich, daß ich auf einmal wegging.«[409]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 401-410.
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