Neun und sechzigster Brief

Madame Guden an Rosalien.

[102] Frau Wolling fuhr fort, mir mit vielen Thränen das Uebrige ihres Schicksals zu erzählen. Sie bekam ein starkes Fieber welches durch ihre Gemüthsunruhe sehr verschlimmert wurde. Wolling hatte, nachdem sie von der Frau Pfarrerinn aufgenommen und besorgt war, allein mit dem Pfarrer gesprochen, ihm alles aufrichtig erzählt und damit geendigt, daß er ihn bitte, ihre Aussöhnung mit ihrem Vater zu bewürken. Er für sich wolle von dem morgenden Tag an sich entfernen und Charlotten die Probe seiner Verehrung und Liebe geben, auf ewig von ihr entfernt zu bleiben; man möchte nur für ihre Gesundheit Sorge tragen, daß Sie bald wieder in das vaterliche Haus zurück käme. Und damit niemand etwas von dem unglücklichen Vorgang erführe so sollte der Pfarrer doch gleich Morgen zu meinem Vater, und ihm das alles sagen. – Er that es auch; aber er fand einen[102] wüthenden Mann, dessen beleidigter Stolz nichts anhörte, nichts ansah; der schon den Abend vorher gegen alles Hausgesind über seine schlechte entlaufene Tochter geflucht hatte. – Der Bruder half auch dazu – und weder Flehen noch Vorstellung des Pfarrers wurde angehört. – Dieser kam trostlos nach seinem Hause zurück. – Wolling war fort. Der Pfarrer schrieb an die Mutter der armen Charlotte, was er von der Sache wußte und beschwur sie, nach Haus zu eilen, um den Ruf und das Leben ihrer Tochter zu retten.

»Ach, sie reiste gleich, die gute Mutter,« sagte Frau Wolling mit Händeringen, und einem Strom von Thränen. – »Aber was half es! – Mein Vater blieb unerbittlich!« – Der Pfarrer rieth ihr, Muth zu fassen und ihre Liebe, ihre Empfindlichkeit, alles ihrer kindlichen Pflicht aufzuopfern und ihre Kräfte zu sammlen, um ihren Vater selbst zu Füssen zu fallen. Er wollte sie hinführen und gemeinschaftlich mit ihrer Mutter um Aussöhnung und Güte bitten. Sie befolgte alles, wurde aber wieder aus dem nehmlichen Gartenzimmer verstossen, wie acht Tage vorher; ungeachtet ihre Mutter neben ihr auf den Knien lag und[103] Gnade erflehen wolte. Die Verzweiflung hatte ihr Kraft gegeben, wieder nach dem Pfarrhof zurück zu kommen. »Aber da öffnete sich der Abgrund meines Elends,« sagte sie. »Ich, von meinem Vater selbst ausgerufen, daß ich mit einem Gärtnergesellen davon gelaufen sey. Alle, alle meine verlebten Tage hin! Meine Liebe zur Tugend, meine Bemühung, sie immer auszuüben, alles dahin! – Das Zeugniß meines Gewissens tröstete mich da nicht; es vergrößerte meinen Jammer. Mein Leben – ja Carl selbst war mir verhaßt. – Ich freute mich über meine Krankheit, über meine Schmerzen. Ich litte Durst, um die Hitze zu vermehren, die in mir tobte und ich war bald am Rande des Grabes. Meine arme Mutter durfte nicht zu mir, mir nicht schreiben. – O, wie elend war ich! Mein Vater glaubte endlich der Magd des Meßners, daß ich am Tode sey und schickte meine Mutter und meinen Bruder zu mir. Aber warum? – O Gott! wie sehr sann er auf mein Unglück! Mein armer Mann hielt sich im benachbarten Dorf auf, aber versteckt; niemand im Pfarrhause wußte es. Er wollte nur meine Genesung und meine Aussöhnung[104] wissen und dann weggehen, allein zu leiden. Mein Bruder hatte ihn ausfündig gemacht und verhetzte meinen Vater darüber gegen mich Unglückliche, als ob ich und Carl noch einverstanden wären. Gott weiß, was er ihm für Beweggründe angab, eine falsche Milde zu zeigen. Man schickte Carln alle seine Sachen zu, und auch meine Kleider ins Pfarrhaus. – Meine Mutter kam mit der Hofnung der väterlichen Verzeihung und mit all ihrer Zärtlichkeit an mein Bett, das ich als mein Sterbbett ansah. Mein Bruder, der harte Mensch, kam auch, und eröfnete mir den Willen meines Vaters, daß ich mich mit Carln sollte trauen lassen es möge zum Leben oder zum Tode mit mir geben. Wäre das erstere, so solle er gleich zu seinem Vater, und durch den sein Glück versuchen; – wäre ich todt, so käm ich doch als ehrliche Frau unter die Erde und schimpfte seinen Namen nicht mehr, unter dem er mit nicht lebend und nicht todt wissen wollte. – Ich weigerte mich, so viel ich vor Schwachheit konnte. Der Zweifel in meine Ehre brach mir das Herz. Meine Mutter zerfloß in Thränen und sie und der Pfarrer[105] redten mir zu, weil sie dachten, es wäre der erste Grad der Erweichung meines Vaters, weil er auch den Trauschein aufgesetzt hatte, worinn er Carln einen Titel gab – und forderte, wenn ich stürbe, sollte ich mit diesem Titel, ins Todtenregister geschrieben werden. –– Mein Bruder ging zu Carln versicherte diesen der Versöhnung, aber daß mein Vater meine Ehre durch die Trauung hergestellt haben wollte. Meinen Tod glaubte er sicher, und sagte Carln, ich wünschte selbst, diesen Trost mit mir zu nehmen, meinem Vater noch zu gehorchen; – und was er noch alles vorbrachte um ihn zu bethören. Er kam Abends um neun Uhr mit ihm, recht gut angekleidet in das Zimmer, wo ich im ärgsten Leiden lag und unvermögend war, zu reden und zu denken. Carl warf sich auf seine Knie vor meiner Mutter, konnte auch nichts sagen, als Gott zum Zeugen anrufen, daß sein Herz unschuldig sey und er sein Leben tausendfach hingeben wollte, um ihren und meinen Jammer zu stillen. – Mein Bruder beschleunigte die Trauung. – Mein Carl und ich waren beyde mehr todt, als lebendig. Ich mußte beynah[106] von nichts und erkannte ihn kaum. – Als die Trauung vorbey und in das Kirchenbuch eingeschrieben war, führte mein Bruder den Pfarrer, meine Matter und Carln meinem Vater zu, um diesen nun völlig zu besänftigen. Aber der Pfarrer und meine Mutter wurden betrogen. Sie sahen meinen armen Carl nicht mehr, mit dem mein Bruder in einer Kalesche vorausfuhr.« –

»Ich kam langsam vom Grabe zurück, war schwach an Geist und Leibe. Mein Kostgeld wurde bezahlt. Man nennte mich Madame Carln. – Anfangs staunte ich darüber – und dann, als ich es ganz wußte, fehlte wenig, so wäre ich über die Gewißheit des Todes gewesen. – Ich wußte und hörte nichts von meinem Manne. – Mein Vater wollte mich nicht sehen; meine Mutter durfte nicht, meine verheyratheten Schwestern und mein Bruder wollten es nicht. Ach! meine blühenden, unverdorbnen Jugendkräfte dienten mir nur, mein unabsehliches Unglück in allen Theilen zu fühlen. Ich blieb leben! – ich lebe noch!« ––

O! Rosalia! mit was für einem Ton, mit was für einem Ausdruck von Schmerz der[107] Seele sagte sie dieses! – Gott müsse mich elend machen, wenn ich nicht die Gelegenheit treu und edel gebrauche, Balsam in diese verwundete Seele zu giessen. Er führte mich her, er gab mir dies fühlende Herz, – er gab mir Glücksgüter. – O, er wird, – er wird mein Vorhaben segnen! ––

Ich faßte sie in meine Arme – druckte sie an mein Herz: »Charlotte! sehen Sie den weiten, offnen Himmel über uns; –– so offen, so rein ist mein Herz vor Gott, der uns beyde sieht. Er wird uns segnen, mein Kind. Er wird mein Vermögen heiligen durch den Gebrauch, den ich davon machen werde. Das Maaß Ihres Leidens war voll. – Er wird das Maaß Ihres Trostes auch überfliessen lassen. Er ließ zu, daß Menschen Sie quälten. Er führte mich her, um mein Glück, meine Freude in ihrem Wohl zu finden. Ich bin frey, unabhängig; ich will bey Ihnen als Schwester, Mutter und treue Freundinn leben und sterben. – Nichts, – nichts soll mich abwendig machen.« ––

Sie sank zurück! – »Gott! ewiger Gott!« – war, was sie stammlen konnte. – Ich benetzte[108] sie mit Thränen und hielt sie an mich. Lange waren wir still. Dann küßte sie mich: »Engel, – Mutter!« – sah mich an, – faltete ihre Hände. – »Vater, Bruder, stiessen mich hieher; und Sie Fremde fassen mich in ihre Arme! – O, wenn ich nach diesem Augenblick sie verlieren sollte, das überlebte ich nicht!« – – Hier erhob sie ihre Hände und betete leise; aber ihre Mine, das Anspannen ihrer Arme ängstigte mich, bis sie wieder weinte. – Dann war ich ruhig. Ich wollte sie nicht weiter erzählen lassen; aber ich bemerkte daß ihr daran lag, mir das ganze Gemählde ihres erlittenen Elends darzustellen und hörte ihr vollends zu. ––

Ihr Vater war eilends mit ihrem Bruder nach der Stadt gegangen, da schickte ihre Mutter ihr Weißzeug, Betten, Kleidungsstücke und eine Küste Hausgeräth an Zinn, Kupfer, sechs silberne Löffel und zwey Ringe die hundert Gulden werth seyn mochten. – Das war alles, was noch vor dem Schiffbruch meines Vaters für mich erhalten wurde. Er bekam eine Untersuchung; es fehlte was in den Kabinetsrechnungen. Sein Stolz hatte ihm Feinde zugezogen. Er war redlich,[109] pochte darauf und gab trotzige Antworten. Man begegnete ihm hart und verächtlich. – Zornmüthig, wie er war, konnte er das nicht ertragen. Sein Blut, seine Galle schäumten und kochten auf einmal so, daß er nicht zu retten war und schnell starb. – Nun konnte Niemand in seiner Familie Auskunft geben. Sein Guth und alles kostbare Hausgeräth verfiel der fürstlichen Kammer. Mein Bruder blieb bey seiner Secretairstelle, und meine Mutter bekam einen Gehalt. – Aber wie mir war, können Sie denken! – Sie zog zu einer meiner Schwestern, die nicht weit von hier wohnte. Den ganzen Winter sah ich sie nicht und wußte nichts von meinem Mann. Im März zog ich auf ein Dorf, das mich meiner Mutter näherte, wo sie manchmal hinging, mich zu sehen. Mein Schwager ist von Adel, der hätte mich niemals zu sich gelassen. Meine Schwester hatte Mühe, ihn leutselig gegen meine Mutter zu erhalten. – Es kam ein schöner Apriltag. Meine Mutter war bey mir gewesen; ich begleitete sie zurück. Ihre Magd ging immer eine Strecke voraus, daß wir allein reden konnten. Sie mußte, ohrweit[110] eines Wäldchens, einen umzäunten Acker vorbey. Wir sahen einen Menschen aus dem Wäldchen kommen, still stehen, gegen uns schauen, stark zulaufen, und wieder inne halten; – endlich die Hände zusammenschlagen, auf seine Knie fallen und was rufen, so wir nicht verstanden. Sein ganzes Ansehen und Bezeigen rührte uns. Wir blieben auch stehen. – ›Charlotte! sagte meine Mutter, er bettelt. Vielleicht ist er schon weit gegangen und matt. Komm, wir wollen ihm was geben, wenn es schon nicht viel ist. Mein Gott, ich kann nicht mehr viel geben.‹

Wir gingen an der Hecke hin gegen ihn. O, denken Sie, wie uns wurde, als wir ihn die Arme ausstrecken sahen, und Carln erkannten, ihn ›Charlotte! Mutter meiner Charlotte!‹ rufen hörten. Ach, wir erschraken so, daß wir vor Zittern nicht gehen konnten. Aber er sank um. Ich fühlte da nichts, als alle meine Liebe und lief zu ihm. Es war Carl. Aber, wie elend! ewiger Gott, wie elend! Er erholte sich an meine Brust gelehnt; denn ich hatte nichts, ihn zu laben, als meine Thränen, die über ihn[111] flossen. Denn wo hätten meine Mutter und ich, in unserer Armuth und Erniedrigung die wohlriechenden Wasserfläschgen hergenommen? Meine Mutter kam zu uns – und weinte auch. Was konnten wir anders! – Es wurde dunkel; meine Mutter mußte zurück. Carl sagte uns nur kurz, daß er gleich nach der Trauung, anstatt zu meinem Vater begleitet zu werden, Werbern übergeben, gebunden und geknebelt weggeführt und als ein Missethäter behandelt worden; – daß er lange krank gewesen, bald auf Karren weggeführt, bald, so viel er konnte, mitmarschirt wäre; sich endlich erholt und nur an mich gedacht hätte, weil er nach der Grausamkeit, die man an ihm ausgeübt, immer die Angst im Herzen getragen, was doch aus mir geworden seyn möge, wenn ich beym Leben geblieben und in die Gewalt meines Vaters gekommen sey. ––

Meine Mutter hörte das Rufen ihrer Magd und befahl mir nach Haus zu gehen. Carl bat um Erlaubniß, mich ein Stück Wegs zu begleiten: Sie ging auch noch eine Weile mit, bis an den lezten Garten des Dorfs, wo Sie uns verließ, aus Furcht,[112] er oder sie möchten verrathen werden. Sie rief Gott um seinen Schutz für uns an, und ging mit Jammer weg, nachdem Sie mich schluchzend geküßt und an sich gedruckt hatte.

Stumm sahen wir ihr nach, und Carl hielt meine Hand stark; oft zuckte sie, am stärksten aber, da meine Mutter um die Ecke der Hecke weg war, und wir uns in der ganzen Gegend allein fanden. Keine Seele, kein Vogel, kein Blätchen bewegte sich. Wir sprachen nichts und ich sah zur Erde. – Mein Mann faßte meine beyden Hände, blickte mich starr an und sagte: ›Sehen Sie, Charlotte! sehen Sie, was Menschen thun, mit denen wir nur in einiger Verwandtschaft sind. Ihre Mutter, das einzige Wesen, so uns liebt und bedauert, – die darf nicht bey uns bleiben; – darf uns nicht trösten, nicht schützen!‹ ––

Er sprach dies heftig, ließ meine Hände gehen, rang die seinigen mit stillem Schmerz. Ich zerfloß in Thränen, wußte aber nicht, was ich thun, was ich sagen wollte. Aber ich war gern bey Carln, das fühlte ich. – Der Mond kam hinter dem Berg hervor und beleuchtete meine ganze Gestalt. Mein[113] Mann betrachtete mich still, wandte sich gegen den Mond und rief aus: ›O, – du!‹ – sah wieder auf mich, weinte nachdem schweigend; faßte sich, nahm sanft eine meiner Hände in seine, druckte sie gegen sein Herzküßte sie, weinte wieder etwas, aber dann sagte er:

›Charlotte! ach lassen Sie mich Sie, diesen Augenblick nur, meine Charlotte nennen. Meine Charlotte! ich bin froh, daß ich hier von allen Menschen nur Sie sehe – und nicht einmal ein Haus, das mir Wohnung und Leben andrer Menschen anzeigt. Sie sind mir verhaßt, ich will auch bey keinem mehr leben, ich will nicht! Sagen Sie mir, Sie, hier auf diesem Platz, wo nichts als der Himmel über uns, und die liebe wohlthätige Erde hier uns sieht und Zeuge von uns ist, – sagen Sie mir Charlotte! was wollen Sie, das ich thun soll? – Ich bete Sie an. Sie liebten mich. – Aber ich will meine Liebe, die ihrige und unsere Trauung, nichts, nichts für mich anführen. Ich kann Ihnen kein Glück anbieten, als die Gärtnerarbeit meiner Arme. Ich danke Gott, daß Sie leben. Haben Sie zu leben?[114] Wollen Sie ohne mich leben? – Ach thun Sie es. – Segnen Sie mich hier unter diesem Himmel! Weinen Sie eine Thräne über mich; drucken Sie meine Hand – und heissen mich gehen. –– Ich kann, o Gott! ich kann Sie nicht öfter sehen, und mit meiner und Ihrer Liebe sehen, ohne tausendfache Wünsche und Schmerzen zu fühlen. – Aber alles, alles opfre ich ihnen! – Ich war glücklich; ich bins den Augenblick – ich sehe Sie! – Ach, vergeben Sie mir alles, was ich Sie leiden machte;‹ sagte er, da er sich zu meinen Füssen nieder warf und mir die Füße küßte, ›vergeben Sie mir meine Liebe. Hassen Sie mich nicht, – beten Sie für mich – und – Ach, Charlotte! – ach Gott! Charlotte!‹ ––

Ich konnte nichts als schluchzen. Endlich sagte ich ihm, er solle doch Morgen wiederkommen da wollte ich ihm die Wünsche meines Herzens sagen. –– ›Wann soll ich kommen?‹ – Erst Abends. – ›Ach da kann ich vielleicht nicht.‹ – Warum nicht? Ich will gewiß da seyn. – ›Ach! wenn Wasser meine Kräfte erhalten kann, wie heute, so will ich auch da seyn. Denn, Charlotte, ich habe den ganzen Tag nichts gegessen.[115] Ich war matt, als ich Sie kommen sah und wollte Sie um Almosen bitten, – als ich Sie erkannte und für Staunen und Freude umsank.‹ ––

O, wie rührte mich dieser neue Umstand! der Arme Liebe! – Ich wollte in mein Dorf und ihm den Abend noch was bringen. Er wollte es nicht und bat mich, nur des Morgens früh zu kommen und etwas Milch und Brodt zu bringen. – Mein Gott, Carl, wo will Er bleiben? – ›Dort,‹ wies er auf ein halb zerfallnes Kapellchen, so auf der Höhe lag. – ›Da kann Ihm ja Unglück geschehen!‹ – Von wem, Charlotte? Hier sind keine wilde Thiere. ––

›Aber es können Räuber kommen.‹ – – ›Räuber! O, was thun die?‹ – sagte er mit bitterm Lächeln; – ›sie nehmen Kleider und das Leben; was ist das gegen dies, was unsere Väter uns nahmen!‹

›O, Was für eine grausame Vergleichung!‹ – ›Grausam, Charlotte! Sehen Sie sich, sehen Sie mich an! – Aber sie sind todt. Mögen sie eine bessere Ewigkeit haben, als das Leben, das sie uns bereiteten.‹ Ich sagte ihm, daß ich diese Nacht[116] die ärgste Quaal leiden würde, über seinen Gemüthszustand – und das Capellchen. –

›Fürchten Sie nichts; ich werde nicht viel schlafen, sondern nach dem Ort sehen, wo Sie wohnen. Einsamkeit fürchte ich nicht. Ich bin seit acht Tagen in einem verfallenen Schlosse, mitten in einer Einöde – und ein Soldat hat Herz.‹ – – Dies beruhigte mich nicht; ich jammerte fort. Da sagte er sanft: ›Seyn Sie ruhig, Charlotte! Gott ist mein Trost und mein Schutz; auf den hoffe ich. Gehn Sie in seinem Namen zurück – und Morgen, ach, Morgen erquicken Sie mich bald.‹ ––

Ich versprach es ihm herzlich; konnte aber beym Abschiednehmen mich nicht zurück halten, mich an seine Brust zu beugen und laut zu weinen. Er umfaßte mich zärtlich. – ›Charlotte! Sie an meiner Brust! – Sie, mit diesem Vertrauen in meinen Armen! – Gott, der uns sieht! Engels Seele, ach alles, alles will ich nun leiden.‹ ––

Er küßte die Ermel seines Kleides, die mich berührt hatten und meine Hände, und trat zurück: ›Nichts mehr, nichts! Gehn Sie heim, gehen Sie; ich bin selig.‹ – Er[117] führte mich noch ein wenig auf meinen Weg, und sah mir nach, bis ich am Ende der Strasse war. Ach, ich schlief nicht viel; ich zog mich nicht aus. Sein Hunger und seine Einsamkeit, und er, und seine Liebe waren vor mir. – Um vier Uhr Morgens hatte ich schon einen Topf mit Milch und Brodt dabey unter meinem Regentuche. Ich eilte hinaus zu der Kapelle und fand ihn schlafend, den Kopf auf der zerbrochnen Stuffe des Altars. Ich betete hier mein Morgengebet mit vielen Thränen, setzte mich auf die Erde, nahm eine seiner Hände, die ganz kalt war. Er mußte die Wärme und das halbe Zittern meiner Hand gefühlt haben, denn er wachte auf. – ›Carl, armer Carl!‹ sagte ich. – ›O, Gott sind Sie schon da, rief er: edle, edle Güte!‹ – Er trank einige Tropfen, dann mehr, tauchte Brosamen ein, labte sich und segnete mich. Dann redten wir ab daß er in einigen Tagen wieder kommen sollte. Bis dorthin wollten wir uns entschliessen, was wir thun könnten; und er nahm die übrige Milch und das Brod mit sich. ––[118]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 2, Altenburg 1797, S. 102-119.
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