Lied der Mutter

[61] Mein Kind, mein Kind! In Knospenhülle ruht,

Dem Sorgenblick entzogen, noch dein Los;

Du lebst von meiner Achtsamkeit und Hut.


Mein Kind, mein Kind! Du wirst nun langsam gross

Und tust erstaunte Blicke in die Welt;

Längst zieht es dich nicht mehr nach meinem Schoss.


Mein Kind, du bist schon auf dich selbst gestellt;

Gleich einem Strom gewinnst du eignen Lauf

Zu Fernen, die kein Lichtstreif noch erhellt.


Mein Kind, ein neues Volk wuchs mit dir auf!

Wird, was wir nur geahnt, in euch Gestalt?

Zieht, was wir nur ersehnt, mit euch herauf?


Mein Kind, die Zeit zerstob, ich werde alt:

Wird eurer Kinder Zukunft anders sein,

Wenn unsre bangen Stimmen längst verhallt?


Wo Männer knirschten, werdet ihr befrein?

Quelle:
Hedwig Lachmann: Gesammelte Gedichte. Potsdam 1919, S. 61-62.
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