[75] Marie ein Buch in der Hand. Ulrich.
MARIE.
Die Stunde ist's, Herr Ritter, wo Ihr mir
Die alten Dichter zu verdeutschen pflegt.
Denn nicht begnügt Ihr Euch, durch eigenen Gesang
Uns zu bezaubern – alles Herrliche,
Was Roms und Hellas' Dichter einst gesungen,
Habt Ihr mir schlichtem Mädchen offenbart,
Die Blüten aller Zeiten, aller Völker
Zu einem Kranze windend, dessen Duft
In eine höh're Welt berauschend uns erhebt.
ULRICH der bei ihrem Anblick zuerst starr stehengeblieben, dann einige Schritte zurückgewichen ist.
O Gott, noch diese Prüfung!
MARIE.
Spracht Ihr was?
Sie betrachtet ihn mit Aufmerksamkeit und erschrickt bei seinem Anblick.
Herr Ritter, sagt, was ist Euch? Euer Anblick
Ist unstet und verstört, ein wildes Feuer rollt
In Euren Augen! Niemals habe ich
Euch so gesehn! Um Gott, was ist Euch? Sprecht!
ULRICH.
O Folterqual! o grauenhaftes Los!
Wie? Ihren Vater, der Geliebten Vater
Soll ich dem Untergang entgegen wagen,
Sie selbst vielleicht zur Waise machen?
MARIE die ihn mit immer wachsender Aufmerksamkeit und Angst betrachtet hat.
Ihr
Antwortet nicht? Was ist Euch? – Zürnt Ihr mir?
Ihr schweigt, Herr Ritter? Womit hab ich das
Um Euch verdient?
ULRICH.
Ich bitte Euch – verzeiht –
Vieledles Fräulein – dringende Geschäfte –
Ein großer Kummer hindern heute mich.
Beiseite.
O wüßte sie, was meine Seele leidet,[75]
O könnte sie in meinem Herzen lesen,
Was ich für sie empfinde – und was ich zugleich
Ihr antun soll!
MARIE.
Ein Kummer, sagtet Ihr?
Was kann Euch sein? Ich bitt Euch, sprecht!
Es schneidet in die tiefste Seele mir,
Euch also leidend vor mir stehn zu sehn.
ULRICH.
Wenn sie den Ton nur änderte! O wüßte sie,
Wie mir der weiche Ton das Herz zerreißt!
Ich – kann nicht mehr, was ich doch muß!
MARIE.
Habt Ihr 'nen Kummer, der Euch plötzlich traf,
Oh, so vertraut ihn mir! Schon das ist Lindrung.
Ihr wißt gewiß, daß ich Euch freund gesinnt –
So fordr' ich meinen Teil an Eurem Schmerz,
Ich und der Vater wollen treulich ihn
Euch tragen helfen!
ULRICH der die ganze Zeit im heftigsten Kampfe dagestanden, auffahrend.
Auf, du starke Seele!
Befreie dein Gefieder, schüttle ab
Mit mächt'gem Flügelschlag des Körpers Trägheit,
Die angeborne Erbsünd' des Geschlechts!
Er ist bei diesen in der höchsten Leidenschaft gesprochenen Worten der Türe zugestürzt. Als er diese erreicht hat, öffnet sie sich und herein tritt Oecolampadius.
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Franz von Sickingen
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