Erste Szene.


[100] Bolza im Mantel und Gellert treten ein.


GELLERT. Da wären wir!

BOLZA. Gerettet! Rasch neben jenem vorschreitend.

GELLERT. Nun erholen Sie sich!

BOLZA. Gerettet! Nehmen Sie meinen aufrichtigsten Dank für Ihre menschenfreundliche Güte!

GELLERT. Halten Sie ein, Herr Graf! Sie haben weder groß[100] zu danken, noch sind Sie gerettet! Für den Augenblick mag es allerdings ein Vorteil sein, daß dieser entschlossene Herr Cato die kleine Saaltür sprengte und uns den Ausweg auf die Grimmasche Gasse hinaus öffnete. Der eintretende Nebel ist uns günstig gewesen zu unserm Umwege hierher auf die Ritterstraße.

BOLZA. Wir sind niemand aufgefallen.

GELLERT. Gut, es mag sein –

BOLZA. Und die Trompeter warten unbefangen unten im Hausflur und ahnen nicht, daß ihr ganzes Nest von Gefangenen ausfliegt. Ich war verloren, wenn sie der Wachtmeister, statt dort unten, oben an der Saaltüre aufgestellt hätte! Jetzt haben sie, durch den Diener und das Mädchen mit Speis' und Trank beschäftigt, kaum etwas gehört vom Lärm der brechenden Tür.

GELLERT. Alles wohl und gut, aber Sie können hier noch eben so gut verloren sein wie dort!

BOLZA. Ihr Haus wird man respektieren!

GELLERT. Schwerlich!

BOLZA. Wenigstens zunächst, gewiß bis morgen; denn man hegt allgemein zu große Hochachtung für Ihre Person!

GELLERT. Schwerlich! Was fragt der kommandierende Soldat nach bürgerlicher Hochachtnug, und der Wachtmeister muß dienstmäßig aussagen, wen er bei Gottscheds gefunden, und wer also die Flucht wahrscheinlich begünstigt habe. Da wird nachgeforscht, nachgesucht. Verblenden wir uns hierüber nicht! Und hier in meiner Wohnung gibt's keine verschlossenen Vorsäle, gibt's keine Verbindungstüren ins Nachbarhaus. Hier ist ein bescheidenes, jedem Zutritte offenes Junggesellenquartier. Dort Rechtshin deutend. ist mein Schlafzimmerchen, und damit ist meine Wohnung zu Ende! und dort Linkshin deutend. wohnt meine alte Wirtin und Wirtschafterin, bei der ich zur Miete sitze. Die ist auf keinerlei kriegerische Vorkehrung eingerichtet, und wenn uns der Feind überrascht, so gibt's für Sie kein Entrinnen. Darauf machen Sie sich gefaßt, Herr Graf, wenn Sie hierbleiben wollen. Er legt seinen Hut und Stock ab. Wollen Sie Ihren Mantel ablegen? Wendet sich nach hinten.

BOLZA. Herr Professor!

GELEERT. Herr Graf!

BOLZA. Sie beherbergen mich ungern!

GELLERT sieht ihn seufzend an, ohne zu antworten.[101]

BOLZA. Sie schützen mich ungern gegen meine Feinde!?

GELLERT. Ja, ungern!

BOLZA. Professor Gellert!

GELLERT nahe zu ihm tretend. Frei heraus mit der Wahrheit, ich möchte Sie gar nicht schützen!

BOLZA. Mein Gott, auch Sie, auch der bravste Mann des Landes verleugnet die Menschenliebe, weil hier die Menschenliebe einem Ausländer gelten soll –

GELLERT. Halt, Herr Graf, Sie sagen zu viel und sagen zu wenig: die menschlichen Pflichten haben eine Stufenfolge. Der Vater und die Mutter schützen zunächst ihr Kind, ehe sie bei gleicher Gefahr auf den Schutz eines fremden Kindes bedacht sind. So will es der Trieb der Natur, welcher das Bestehen der Menschheit sichert. Der Landsmann schützet zunächst den Landsmann; denn Landsleute sollen Kinder sein einer großen Familie. So will es der Sinn und Trieb der Gesellschaft, und dieser Sinn und Trieb erhält den Staat und das Vaterland. Sie sind nicht mein Landsmann, wohl, würde ich deshalb dem Fremden meine Hilfe versagen? Gewiß nicht; denn sie ist mir geboten durch meine Menschen- und Christenpflicht. Ein gesittet Volk schützt auch den Fremden bereitwillig, aber nur den unverfänglichen Fremden. Ein solcher sind Sie nicht! Sie gehören zu einer Klasse von Fremdlingen, welche sich zu unserm Schaden in Dresden eingenistet, ja Sie sind ein Feind meiner Landsleute.

BOLZA. Herr Professor!

GELLERT. Ich vergehe mich gegen mein Vaterland, wenn ich Sie schütze, Herr Graf, und ich vergehe mich, merken Sie wohl auf! ich vergehe mich – Mit etwas gedämpfter Stimme. gegen meine nächsten Freunde, ich sündige gegen ein mir heiliges Moralprinzip, Herr Graf von Bolza, wenn ich Sie hier in Leipzig schütze.

BOLZA. Herr Professor Gellert!

GELLERT ohne sich zu unterbrechen. Denn ich weiß, welch ein Gelüst Sie gerade jetzt nach Leipzig geführt in das Haus meines Kollegen; ich weiß es, weil jene Frau – eine edle, unbescholtene Frau und meine verehrte Freundin – mir vor einer Viertelstunde, während Sie mit Herrn Cato am Einbrechen der Tür arbeiteten, ziemlich unverhohlen angedeutet hat, unter welchen Äußerungen Sie hier aufgetreten sind.[102]

BOLZA. Die Frau –

GELLERT. Nennen Sie keinen Namen. Sie haben kein Recht dazu. Der Name einer deutschen Hausfrau ist wie ein Kristallgefäß: jeder Hauch trübt und verunziert dasselbe. Danken Sie's Ihrem Glück, wenn Gottsched, um den Sie's nicht verdient, den Sturm von Ihrem Haupte abwendet. Er hat zu Ihrer Beschämung sein eignes Wohl ausgesetzt, indem er jetzt persönlich aufs Rathaus gegangen ist, um die Aufmerksamkeit von Ihnen abzulenken. Es klopft an der Mitteltür.

BOLZA. Es klopft!

GELLERT. Es klopft?

BOLZA. Beurteilen Sie nicht die Wallungen der Jugend mit der Strenge eines tugendhaften Alters.


Es klopft von neuem.


GELLERT. Es klopft wirklich!

BOLZA. Ihr menschenfreundliches Herz kann nicht zugeben, daß ich mich ohne Not preisgebe.

GELLERT. Nein doch, nein.

BOLZA. Ihr Vorurteil kann nicht ein Menschenleben aussetzen wollen – Wendet sich nach hinten.

GELLERT. Nein doch, nein doch! – Rechts hinüber! Da sind Sie sicherer als bei meinen Wirtsleuten – da, da drüben! Nach rechts zeigend und bis an die Tür mitgehend. Bolza rechts ab in die Tür. Gellert, einen Moment in der Mitte des Theaters stehend, macht eine Pantomime wie des Vorwurfs gegen sich selbst, dann kommt er vor. Ich bin doch wie ein kleines Kind! Erst setz' ich dem Italiener weitläufig auseinander, daß ich ihn durchaus nicht schützen könne, und da Not an Mann kommt, hab' ich nichts Dringenderes zu tun, als ihn selbst zu verstecken. Es klopft wieder. In Gottes Namen, herein!


Quelle:
Heinrich Laube: Gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Band 25, Leipzig 1908–09, S. 100-103.
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