28. Valerius an Konstantin.

[147] Meine Kräfte sind in diesem Augenblick zu geschwächt, als daß ich Deinen Brief sorgfältig einzeln und umfassend beantworten könnte. Es ist ein trüber Nebeltag, den Du mir geschickt, Freund. Jeder gewissenhafte Mensch zweifelt zuweilen an den Wahrheiten, die sein Leben leiten und zusammenhalten. Du bist in einer bedenklichen Krisis, und ich fürchte, die Jugend Deines Geistes und Herzens geht darin zugrunde; ich fürchte, Du wirst in kurzem ein alter Mann[147] sein, die Jugend irrt allerdings mehr als das Alter, aber sie ist Poesie und Leben; ein grüner Irrtum ist schöner als ein vertrocknetes richtiges Wort. Jeder große Mann bringt Tausenden Tod, um Millionen Leben zu bereiten; der Haufen Toter, den der Kampf einer neuen Zeit um Euch aufhäuft, verengt Euch die Aussicht, Ihr seht nur den blutigen Tag, nicht das goldene Jahrhundert. Wenn uns die Jugend verläßt, so meinen wir, die Zeit müsse ebenfalls vollendet sein; wir verlangen, daß die Zeit in ebenso kurzen Schritten gehe als ein Mensch, ebenso schnell mit ihrem Leben zu Ende sei als wir. Der ist der große Historiker, der nicht nach dem Schlage des eigenen Herzens urteilt, denn wie zeitig schlägt ein menschliches Herz matt, sondern nach dem Herzschlage der geschichtlichen Epoche. Das Jahrhundert kommt wie ein Wandersmann mit zerrissenen, abgetragenen, schmutzigen Kleidern an dem Orte an, wo es sich neu kleiden, reinigen, säubern, umgestalten soll – ein Kleidungsstück nach dem andern wird abgeworfen, der unkundige Mensch geht vorüber, er hat es lebhaft gewünscht, daß jener Wanderer sich neu gestalten soll; aber er sieht die halb entkleidete schmutzige Figur, er entsetzt sich davor, nennt seinen Wunsch Frevel, verhüllt sein Gesicht und läuft heulend von dannen.

Du hast plötzlich vergessen, daß wir inmitten einer kritischen, zerstörenden, umwandelnden Epoche sind, in drei Tagen hast Du die Metamorphose vollendet sehen wollen – da dieser Glaube Dich getäuscht, wie er Dich täuschen mußte, denn nicht in einer Nacht blüht die ganze Erde auf, läufst Du heulend und Dein Gesicht verhüllend von dannen. Dir spukt die Tages- und Wochengeschichte im Kopf, und die Weltgeschichte Deines Herzens hast Du vergessen, die in Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten schreitet, weil Dein Herz plötzlich zusammengeschrumpft ist.

Da das Handgemenge um die Freiheit begonnen hat, alle Triebe, Begriffe, Wissenschaften, Künste in dieses Handgemenge[148] verwickelt sind, schreist Du mit schwacher Stimme »Ordnung – Ordnung«, und weil es nichts hilft, wirfst Du Dich weinend an den Boden. Kämpfe – der Kampf ist zur Kriegszeit der nächste Weg zur Ordnung.

Ermannst Du Dich nicht, erreichst Du nicht die Höhe des historischen Überblicks, wo die kleinen Störungen verschwinden, Freund, so bist Du in kurzem von der neuen Zeit geschieden, so bist Du bald eine Mumie.

– Ade, Konstantin – Dein Valer.

Schreiber dieses, der Prinz Zerbino aus der Provence, schickt Dir ein ganzes Füllhorn Grüße und Entschuldigungen, daß er seine Hand hat leihen müssen zu so herben Dingen.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 1, Leipzig 1908, S. 147-149.
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