29. Hippolyt an Konstantin.

[149] Jag Deine Augen Karriere durch diese Zeilen. Sobald Du am Ende bist, eil an die Tore nach Deutschland zu, gib Aufträge, beschreibe, unterrichte, versprich Belohnungen – tu alles, um der Gräfin Julia, wenigstens ihrer Wohnung, wenigstens der Nachricht habhaft zu werden, ob sie in Paris ist oder nicht. Dieser Brief kommt auf dem kürzesten Wege zu Dir, er reist gewiß schneller als eine Dame. Vor einer Stunde ist Julia abgereist; ich trat nach jenem törichten Geschwätz Leopolds, wobei wir vielfach stehen geblieben waren, gelacht, kurz die Zeit vertrödelt hatten, in den Schloßhof, und hoffte Julien verschämt aber liebevoll im Gesellschaftssaale zu finden – da fliegt Juliens Reisewagen über die jenseitige Brücke, die vier Pferde wiehern wie hohnlachend und ziehen die Beute im gestreckten Trabe von dannen – alle Muskeln schwellen mir, ich starre wie ein zürnendes Steinbild hin, tausend Leidenschaften drohen mich zu zersprengen – da wendet sich ein Kopf aus dem Wagen; ich erkenne Julien, sie winkt Abschied mit dem Taschentuche. Da wird der Stein lebendig, ich fliege in den Stall, zum[149] Satteln ist keine Zeit, werfe meinem Pferde den Zaum über, springe auf und jage ventre à terre der davoneilenden Beute nach – am nächsten Dorfe erreiche ich glücklich den Wagen, ich ruf' den Kutschern Halt zu, sie erhalten aus dem Wagen Gegenbefehl, Julia, die mich erblickt hat, erteilt den Gegenbefehl, mein Pferd droht unter mir zusammenzustürzen. Ich wollte in den Wagen springen, mit gerungenen Händen bat sie mich abzulassen, zurückzukehren. Ihr Gesicht schwamm in Tränen, sie schien immerwährend geweint zu haben – Hippolyte, toute mon âme Vous prie de me laisser partir, Vous m'assassinez en m'empêchant – das geschah alles noch im Trabe, ich schrie dem ersten Kutscher zu, ich erwürgte ihn, wenn er nicht Schritt führe – er tat's. »Julie, mon ange, pourquoi ça?« Sie reichte mir die Hand aus dem Wagen, sie war glühend heiß und bebte. Ich drückte sie an meine Lippen. »Vous me tuez, si vous ne retournez pas!« – Ach, das sagte sie mit einem Blick, der mit seiner Rührung den Himmel gespalten hätte. Ich hielt mein Pferd still und blieb zurück. Da warfen die Kutscher ihre Pferde in Galopp – meine Wut erwachte, ich wollte die Schufte ermorden und jagte nach. Julia erhob sich händeringend im Wagen, neben ihr stürzte mein Pferd zusammen, ich hörte Juliens Schrei und Haltrufen, aber mein Stolz hob mich unter dem Leibe meines Pferdes in die Höhe; ich winkte ihr, fortzufahren – sie fuhr. Ich weiß nicht, wie ich zurückgekommen bin. Tu, wie ich Dich gebeten, bald siehst Du mich selbst.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 1, Leipzig 1908, S. 149-150.
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