11.

[58] Valerius war in jener Nacht nur auf kurze Zeiträume aus seiner Träumerei zu wecken gewesen. Er machte sich die lebhaftesten Vorwürfe über diese gefährliche Schwäche, als ihm Magyac am andern Morgen die Begebenheiten der Nacht erzählte.

Das ist jenes törichte Leben in die Weite, in die Ferne, das den Baum vor Augen nicht merkt, bis er sich kund gibt durch einen heftigen Stoß. Das ist jenes Räsonieren ins Ungemessene hinaus, jenes deutsche Komponieren der nächsten weltgeschichtlichen Epochen, worüber die Gegenwart und das zeitig Notwendige unbenützt vorüberstreicht, das ist jenes unpraktische Wesen, das sich so gern und so leicht mit höheren weiteren Zwecken entschuldigt, das gepriesen sein möchte als[58] weitsichtiges, höheres Element, und das doch übertroffen wird von jenem kleinen Buben, der das Pferd tränkt, da es eben dürstet. Auf den nächsten Schritt soll man achten und dem Augenblick leben, der eben da ist, den Gegenstand ergründen, der just neben uns steht.

So schalt er sich, während Magyac erzählte. Der Schmied hatte das Biwak umstellt, und während die Schläfer mit wildem Geschrei überfallen worden, waren die Wagen in größter Schnelligkeit ungehindert die Lichtung passiert. Nur das gnädige Fräulein, die bis zum Augenblick des Überfalls fest geschlafen, sei, erweckt von dem plötzlichen Lärmen, aus dem Wagen gesprungen und in den Wald hinein gelaufen; Joel, der ihr nachgeeilt, habe sie zwar eingeholt, aber die Wagen seien längst auf und davon gewesen, und so habe man das Fräulein hierher ins Haus gebracht, wo sie jetzt noch ruhig schlafe.

»Aber wie bin ich denn hierher gekommen, Thaddäus?«

»Ja, was weiß ich, Herr, du sagtest ja zum Schmiede, daß du seine Bekanntschaft machen wolltest.«

»So?«

Valerius befand sich auf einer ähnlichen Waldlichtung, wie er heut' nacht gesehen, in seinen Mantel gehüllt lag er an einem verglimmenden Feuer, hinter ihm ein langer starker Baumstamm. Dieser hatte ihm zum Kissen gedient, wie er vermutete, denn der Nacken schmerzte ihm gewaltig von dem kurzen Schlafe. Magyac saß vor ihm an der Erde und scharrte einige Kartoffeln aus der Asche, die er zum Frühstück geröstet hatte. Dann zog er ein Stück Schwarzbrot aus der einen Tasche seines Pelzes und eine Schnapsflasche aus der andern, und legte alles vor Valerius hin, indem er ihn mit einem halb verschmitzten, halb schmerzlichen Lächeln aufforderte, sich des Frühstücks zu bedienen.

Valerius nahm lächelnd einige Bissen Brot. »Trink getrost, Herr,« sagte Thaddäus, »es ist Wein vom Grafen, im[59] Lärm der Abreise hab' ich meine Flasche leer und wieder voll gemacht – der alte Schurke, wenn nicht seine Mutter wäre, die der heilige Adalbert erhalten möge.«

»Wo ist Joel? Und wo sind wir eigentlich?« Thaddäus deutete auf einen Winkel des Gebäudes, unter dessen Dache sie sich befanden – da lag der arme Junge zusammengekrümmt unter seinem Mantel und schlief. Mit der Hand und einem bunten Tüchlein hielt er sich einen Teil des Gesichts verdeckt – Valerius kannte das Tuch von jenem Abende, es war Hedwigs.

Thaddäus hatte die zweite Frage nicht beantwortet; eh' sie Valerius wiederholte, sah er sich um, ob er sie vielleicht selbst beantworten könnte. Er erkannte nicht ohne Anstrengung, daß er sich mit seinen Gefährten unter einer sogenannten Wildraufe befände, wie man sie für strenge Winter zur Atzung des Wildes anlegt. Einige alte zerfallene Krippen und Raufen, die umherlagen, erinnerten in ihren Trümmern daran. Solche Wildraufen bestehen eigentlich nur aus einem schiefen Dache, das sich auf eine Bretterwand und einige Pfosten stützt. Die drei übrigen Zugänge sind offen, und da die offene Seite nach Morgen lag, so schien die Sonne freundlich auf die Gruppe und erheiterte wie immer den deutschen Wallfahrer, wie er sich manchmal nannte. Der Fichten- und Kieferwald glänzte mit den Funken des gerinnenden leichten Schnees, der den Abend vorher gefallen und jetzt größtenteils schon wieder verschwunden war. Es begann einer jener Wintertage, in deren Mundwinkeln schon ein Frühlingslächeln schwebt, ein lauer Tauwind zog langsam über die Fläche. Solch ein Wind ist wie der Hauch eines jungen Mädchens, wenn er uns zum ersten Male berührt, und wir empfinden, welch eine Lust es sein müsse, von den Lippen geküßt zu werden, über welche dieser Atem flog. Frühlingsahnung, Ahnung einer schöneren Zeit zieht damit in unsere Brust.[60]

Auch Valerius sagte lächelnd: »Es wird noch alles gut werden – weiter, weiter.«

Einer der Seitenausgänge dieser Wildraufe war aber verschlossen durch ein Bretterhäuschen, das sich daran lehnte, und mit der Hinterwand der Raufe eben jenen Winkel bildete, in welchem Joel lag.

»Wer wohnt hier, Thaddäus?« fragte Valerius von neuem. Thaddäus umging aber die Frage noch einmal. »In der guten alten Zeit,« sagte er, »wo die Polen noch Polen waren, hat es hier in der Gegend einen freundlichen Herrn gegeben, welcher das Wild besser behandelte, als mancher die Menschen; der ließ in strengen Wintern zuweilen hier Futter ausschütten für die hungrigen Tiere – 's ist aber lange her, und die alten Bretter sind schon verfault, wenn der Wind hineinfährt, da stöhnen sie wie die Wölfe, die sich öfters hierher flüchten.«

»Ich bin dein Freund, Thaddäus, wer wohnt in jenem Hause?«

»Gott lohn's Euch, Herr,« erwiderte dieser und griff nach Valerius' Mantelzipfel, »wir haben nicht viel Freunde, wir Polen in Schafspelzen, aber einen mächtigen und einen stolzen Feind: den Russen und den Edelmann, dort in der Hütte, Herr, aber« – und dabei sank seine Stimme zum Geflüster herab – »wohnt der Schmied – seit vielen, vielen Jahren schon – wer seine Wohnung verrät, begegnet keinem Polen mehr,« setzte er mit blitzenden Augen hinzu, »es führt kein Weg durch den Wald hierher, und eine Stunde im Umkreise haben seine Freunde einen Graben im Walde ringsum gezogen, über den kein Reiter setzt, es haben viel Leute daran gegraben.«

»Warum,« fragte Valerius weiter, »wohnt er denn schon so lange im verborgenen?«

Ein zuckendes, böses Lächeln preßte sich über Magyacs Gesicht, und er schien etwas Schlimmes auf der Zunge zu[61] haben, aber er schluckte es hinunter, und nach einer Pause fuhr er fort mit wehmütigem Tone: »Es ist schon lange her, daß sie ihm alles genommen haben, ich war ein kleiner Bube, als er noch in Wavre wohnte mit Weib und Kind, und 's war ein trüber, nebliger Herbstabend, als ich wieder einmal bei der Schmiede stand und mit großer Freude die glühenden Funken betrachtete, die durch den Nebel hinstoben von des Schmiedes gewaltigen Schlägen. Ja, Herr, die alten Leute sagen, sie hätten Zeit ihres Lebens keinen tüchtigeren Polen gesehen als den Schmied Florian, und der selige Herr Kosciusco – Gott segne seine Asche! – hat ihn immer den jungen Piasten genannt. Ja, Herr, so war der Schmied, und als er an jenem Abende auf den Ambos schlug, da sang er ein altes Lied von unserer Freiheit, und die Gesellen sangen mit, und das halbe Dorf versammelte sich um die Schmiede, 's war just der Abend vorm heiligen Martinstage, die Leute in Wavre gedenken alle Jahre dieses Abends. Denn als sie noch nicht fertig waren mit der Axt, die der Schmied hämmerte, und dem Liede, das sie alle sangen, da kamen die Russen aus Warschau und wollten den Florian gefangen nehmen, weil er ein aufrührerischer Kopf sei. Der Schmied aber schlug dem ersten, der ihm nahe kam, den Hammer vor den Kopf, daß er hinschlug wie ein umgehauener Baum. Nun ging das Schießen los, denn es wagte sich keiner mehr an den Polen. Es dauerte auch nicht lange, da lag Florians Weib und sein rüstiger Junge im Blute, und der Schmied stürzte heraus wie ein angeschossener Eber mitten unter die Soldaten, sie fuhren entsetzt nach allen Seiten auseinander, und ehe sie sich wieder sammelten, war Florian in den Wäldern. Jeder Russe, der ihn wieder gesehen, hat's mit dem Leben bezahlt.

Florian ist übrigens der beste Mann im Lande und tut keinem Kinde was zuleide; viele Leute halten ihn auch für einen Heiligen; aber unglücklich ist er sehr, und wenn[62] er am Tage um unser Vaterland geweint hat, so weint er des Nachts um sein Weib und seinen frischen Buben. Herr, seit ich den Schmied zum ersten Male in seinem Jammer belauscht habe, seit der Zeit hat mich nichts mehr gerührt; es war am verwichenen Martinsabende, ich hatte einen Wolf erschlagen, und wollte dem Florian die Haut bringen für den Winter, da sah ich ihn durch die Türspalte vor seinem Heiligen auf den Knien liegen, das Wasser lief ihm in den Bart, und er fragte schluchzend den lieben Gott, ob er wohl wisse, wie schlecht es uns erginge im Lande Polen.«

Thaddäus sprach nicht weiter, es trat eine lange Pause ein, und Valerius reichte ihm die Hand, die jener heftig küßte. Der Mund des jungen Polen brannte heiß und fieberisch.

Die Tür des kleinen Häuschens öffnete sich, und Hedwig erschien auf der Schwelle, frisch wie ein junger Waldbaum, den der Tau des Morgens erquickt hat. Sie sah mit Lächeln auf den Schläfer im Winkel. Es lag soviel Schalkheit und soviel Wehmut in diesem Lächeln, daß man nicht wußte, ob jene größer als diese sei. Joel schlug die Augen auf und streckte noch halb schlaftrunken die Arme nach ihr aus. Sie reichte ihm die Hand, und als er sie an die Lippen führte, strich sie ihm leise damit über das Gesicht; ihre Hand berührte auch jenes Tüchlein, aber sie ergriff es nicht.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 58-63.
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