12.

[63] Die linden Lüfte sind erwacht,

Sie säuseln und weben Tag und Nacht,

Sie schaffen an allen Enden.

O frischer Duft, o neuer Klang!

Nun, armes Herze, sei nicht bang,

Nun muß sich alles, alles wenden!


Sie hatten den größten Teil des Tages über im Sonnenscheine gesessen, und die Herzen hatten gesprochen mit jenen[63] unmittelbaren Worten, die man nicht nacherzählen kann, und Valerius hatte zum ersten Male wieder seit langer, langer Zeit deutsche Lieder gesungen. Jene Verse stahlen sich aber immer von neuem zwischen alle seine Lieder, die warme Luft ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Joel war schweigsam, aber sanft und freundlich, und Hedwig hatte ihr inniges Ergötzen an all den neuen Weisen, denn die Jugend liebt die Poesie wie die frische Luft. Joel hatte sie die deutsche Sprache gelehrt, und wenn sie sich auch verwunderte, daß die Weisen alle so langsam gingen, so hörte sie doch nicht auf zu rufen: »Immer mehr, immer mehr!«

Über diesem Treiben kam der Abend; Magyac, der jenseits des Grabens nach den im Dickicht untergebrachten Pferden gesehen hatte, kehrte zurück, machte in der Hütte ein Feuer an, und legte sich auf ein Strohlager in einen Winkel. Kamin oder Ofen war nicht vorhanden, und der Rauch suchte sich durch die vielen Öffnungen des Daches seinen Weg. Kummervoll betrachtete Valerius diesen unwirtlichen Raum, des armen Schmiedes steten Aufenthalt. Hedwig hatte sich am Feuer niedergekauert und wärmte sich die Hände; Joel war nicht zu sehen, bald aber hörte man von draußen her seine Stimme. Auch ihm war das traurige Herz aufgegangen in diesen stillen Stunden, und was er nie zu sprechen wagte, das sang er jetzt in die Nacht hinaus, in den schweigsamen Wald hinein. Aber als ob es das polnische Land nicht verstehen sollte, sang auch er die Worte deutscher Dichter. Er schien umherzuirren auf der Waldflur, manchmal verklangen die Worte in großer Ferne, manchmal hörte man sie dicht an der Hütte. Hedwig horchte aufmerksam, die Stimme kam eben näher, und man verstand die Worte:


»Ach nein, erwerben kann ich's nicht,

Es steht mir gar zu fern.

Es weilt so hoch, es blinkt so schön,

Wie droben jener Stern.[64]


Die Sterne, die begehrt man nicht,

Man freut sich ihrer Pracht,

Und mit Entzücken blickt man auf

In jeder heitern Nacht.


Und mit Entzücken blick' ich auf,

So manchen lieben Tag;

Verweinen laßt die Nächte mich,

Solang' ich weinen mag.«


Hedwig sah mit wehmütigen Blicken in das Feuer; Valerius, an die Wand sich lehnend, sah forschend in ihr Angesicht, es war alles still ringsum, man hörte durch die dünne Bretterwand, wie der Sänger leise seufzte und sich langsam entfernte. Klagend sang er weiter:


»Lebe wohl, lebe wohl, mein Lieb!

Muß noch heute scheiden.

Einen Kuß, einen Kuß mir gib!

Muß dich ewig meiden.


Eine Blüt', eine Blüt' mir brich

Von dem Baum im Garten!

Keine Frucht, keine Frucht für mich!

Darf sie nicht erwarten.«


Die Stimme schwieg; es schien Valerius, als stünden dem schönen Mädchen die Augen voll Wasser, aber sie regte sich nicht; der seidene Mantel glitt ihr langsam von der weißen Schulter – sie ließ ihn gleiten; ihre langen Augenwimper senkten sich kaum merklich ein wenig tiefer – man konnte das schöne Mädchen für ein Marmorbild halten.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 63-65.
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