[65] Nach einiger Zeit nahten sich Schritte von mehreren Seiten, und man hörte draußen eine Menge Stimmen. Magyac sprang auf und ging nach der Tür, bat aber Valerius, so lange in der Hütte zu bleiben, bis der Schmied zurückkäme. Durch die Spalten der Wand sahen die Zurückbleibenden[65] draußen unter der Wildraufe ein Feuer auflodern, und rings um dasselbe eine Schar bewaffneter Bauern. Die Zahl derselben wurde immer größer, ihr Gespräch immer lebhafter und stürmischer.
»Warum liegen sie fortwährend in Warschau still,« schrie eine rauhe Stimme, »warum geht's nicht von der Stell'? Sie sind Verräter und schreiben nach Petersburg.«
»Das verstehst du nicht, Slodczek, du bist ein Unband, der an einem Tage säen und ernten will,« sprach ein alter Bauer, der sich am Feuer niedergesetzt hatte.
»Der Slodczek hat recht,« schrie eine Stimme aus dem dichtesten Haufen, – »er hat nicht recht,« schrie eine andere, und bald brauste das Stimmengewirr unverständlich durcheinander.
»Es muß was geschehen,« übertönte Slodczek das Durcheinander mit seiner rauhen Kehle, »sonst verkaufen sie uns wieder das Fell vom Leibe, und wenn's Glück hoch kommt, sind sie selbst die Käufer – wir müssen nach Warschau.«
Dieses Wort erregte einen noch viel größeren Lärm, und es schien auf Augenblicke, als ob sich die verschieden gesinnten Meinungen durch die Waffen selbst geltend machen wollten. Slodczek wenigstens schlug sein Gewehr auf einen Bauer an, der sich ihm am eifrigsten entgegenzusetzen schien. Aber jener Alte, der ihm zu Anfang widersprochen hatte, schlug ihm das Gewehr in die Höhe, der Schuß ging indessen los und die Kugel fuhr prasselnd durch das alte Schindeldach.
Es folgte eine augenblickliche Stille; Slodczek selbst schien bestürzt zu sein.
»Wie lange wird der Ring des Schmiedes sicher sein, wenn wir alle unsere Büchsen abschießen?« sagte mit langsamer Betonung Thaddäus Magyac.
Der alte Bauer warf einen jener fliegenden polnischen Blicke auf Slodczek und auf die übrigen, dann sah er gedankenvoll in den Lauf seines Gewehrs, und jener nationale Zug einer gesunden Melancholie lagerte sich auf seinem[66] schmalen Gesichte. »Wir werden zu zeitig auf die Fläche hinauslaufen, damit sie uns alle mit einem Male treffen können,« sprach er mit traurigem Tone.
Man konnte nicht einen Augenblick verkennen, daß selbst die Stürmischen dieser Insurgenten keineswegs zu etwas Durchgreifendem entschlossen waren. Die Gelegenheit schien ihnen zwar bequem, ihre schlechten Dienstverhältnisse zu den eingebornen Herren des Landes besser zu gestalten, und viele waren der Meinung, daß Polen bestehen könne, ohne daß sie selbst in so tiefer Abhängigkeit von den Edelleuten lebten, aber es war doch selbst in diesen mehr ein romantisches Tappen nach größerer persönlicher Freiheit, als ein klares Bewußtsein. Und sobald die allgemeine Gefahr des gemeinschaftlichen Vaterlandes einen Augenblick dringend wurde, verschwanden alle jene Halbgedanken wie die kleinen Wünsche eines Gefangenen vor dem großen Begriffe der Befreiung.
Während es in der Versammlung eine Zeitlang völlig still war, und die Bauern gedankenvoll vor sich hinsahen, wendeten auch Hedwig und Valerius ihre Blicke von den Spalten, und sahen sich gegenseitig an, um einander die Verwunderung über solch eine Szene auszudrücken. Sie waren beide in einer großen Spannung, und es war natürlich, daß sie heftig zusammenschraken, als plötzlich der Laden aufgerissen wurde, der sich auf der andern Seite der Hütte befand, ein langer Bart zum Vorschein kam, und eine unheimliche Stimme mit eulenartigem, weitschallendem Tone rief: »Joel, wo bist du?«
Wie der Sturmwind stürzten die Bauern herbei, und in einem Nu lag der Mann, dem jene Stimme gehörte, niedergeworfen am Feuer unter der Wildraufe, und fünf, sechs Büchsen waren auf ihn angeschlagen.
»Ein Spion, ein Spion!« schrie alles durcheinander. »Ein Jude, ein jüdischer Spion!« brüllte die Menge gleich darauf, als der Schein des Feuers auf ihn gefallen war.[67]
Es war Manasse, Manasse in seinem langen schwarzseidenen Kaftan. Das totenbleiche Gesicht sah ängstlich auf die drohenden Feuerröhre, und mit hastiger Stimme rief er: »Ich bin kein Spion, ich bin der ehrliche Jude Manasse – wo ist mein Sohn Joel?« schrie er hinterdrein mit kreischender Stimme.
»Drückt ab,« stürmte Slodczek, »er hat uns behorcht; er verrät uns an die Edelleute.«
»Im Ringe des Schmiedes wird nicht geschossen,« sagte Magyac, und warf gleichmütig frisches Holz ins Feuer.
Die Gewehre senkten sich. Manasse benützte diesen Augenblick zu seiner Verteidigung: »Ich habe nichts gehört, nichts, nicht ein Wort hab' ich gehört; von jener Seite bin ich gekommen, um zu suchen meinen armen Sohn Joel. Mein Sohn Joel vergießt für euch sein Blut, er ist Soldat, mein Joel, sie haben ihn vom Pferde geschossen bei Grochow, vom Pferde, das ich ihm selber gekauft; totgeschossen lag es neben ihm, das schöne Tier, das teure Tier.«
»Schlagt ihm den Schädel ein,« unterbrach ihn Slodczek, und ging mit umgekehrter Büchse auf ihn los, »wenn er Geld verdienen kann, verrät er uns doch.«
Da riß sich der alte Jude mit der Kraft eines Jünglings aus den Fäusten der beiden Bauern, die ihn festhielten, und die lange, magere Figur streckte sich kerzengerade in die Höhe; mit der einen Hand riß er sich die schwarze Mütze vom Schädel, die andere streckte er dem andringenden Slodczek entgegen – die dürren Finger zitterten, die dünnen grauen Haare flogen im Winde, er war anzuschauen wie einer jener Propheten, die den Untergang Judas weissagten: »Der Cherem des allmächtigen Adonai falle über euch, so ihr einem unglücklichen alten Manne ein Haar krümmt, euer Stamm sei verflucht bis ins tausendfachste Glied, euer Land soll wüste liegen, wie das Land zwischen Ägypten und Kanaan, euer Name soll vergessen werden auf ewig, und der Würgengel[68] halte Wache an euren Grenzen bis zum Jüngsten Gericht, so ihr euch vergreift mit frechen Händen an einem Manne des strengsten Gesetzes, an einem der Chassidim, an Manasse, dem Auserwählten des hochgelobten Herrn der Heerscharen.«
Dieser Bannstrahl machte einen unerwarteten Eindruck auf die Bauern. Es lag ein religiöses Element darin, das die frommen Katholiken berührte, jener schreckliche Bezug auf ihr Vaterland und dessen Zerstörung, der entsetzlichste Gedanke für den wildesten polnischen Bauer, der Anblick und die erschreckende Zuversicht des Greises, womit er die Worte sprach – alles das erzeugte eine Totenstille.
Manasse blieb in derselben Stellung, seine Muskeln schienen ehern geworden zu sein, und die düsteren schwarzen Augen leuchteten wie schauerliche Totenfackeln.
»Ich soll euch verraten an eure Herren! O Adonai, wie lange schon liegt dein Zorn auf uns – bin ich nicht ein tiefer gebeugter Sklave als ihr – wenn der Herr euch schlägt mit der Hand, so tritt er mich mit dem Fuße, wenn er den einen von euch mißhandelt, so beklagen ihn die andern, wenn er mich mißhandelt, so lachen sie, wenn ihr unter die Kugeln lauft, und sie euch treffen, so fallt ihr für euer Land, so fallt ihr als Helden, welche die Nachwelt besingt – wenn wir fallen für euer Land, so ist ein Jude weniger, und das ist gut, sprecht ihr dann – weil ich suche meinen Sohn Joel, der vielleicht schon gefallen ist für euch unter den Kugeln der Russen, schlagt ihr auch den Vater tot – das ist auch gut. Und ich soll euch verraten! Was hab' ich zu verraten als größeres Elend denn eures« –
Dabei sank er zusammen. Hedwig, die ihn plötzlich verschwinden sah unter der Menge, glaubte, man sei im Begriff, ihn umzubringen, und stürzte hinaus, Valerius, der schon längst auf dem Sprunge gestanden hatte, folgte ihr augenblicklich. Nur die Überzeugung, daß er in diesem Augenblicke eine ebenso verhaßte Erscheinung sein müsse, als[69] der Jude, daß er den Verdacht der Bauern, behorcht zu sein, zur Gewißheit steigern würde, hatte ihn bisher abgehalten. Aber der Moment schien ihm der äußerste, als Manasse vor seinen Blicken verschwand, und er bemerkte es kaum, daß auch Hedwig hinauseilte.
Ihr Erscheinen machte die Verwirrung vollständig. – »Ein Edelmann – des Grafen Tochter,« schrie alles durcheinander, und im ersten Angenblicke drängten sich die Bauern alle auf eine Seite zusammen, gleich als ob sie sich fürchteten, oder nur in Masse von nun an handeln müßten.
Da erschien auch plötzlich Joel, der mit dem größten Erstaunen die Gruppe betrachtete, die so wenig zu den Liebesträumen passen mochte, aus denen er eben erwachte. Er stürzte zu Manasse und richtete ihn auf; in den Augen des zerbrochenen Greises leuchtete eine unbeschreibliche Glückseligkeit, als er sah, daß es sein Sohn, sein Joel wäre, der ihn unterstützte.
Das Feuer war zwischen den Parteien, nur Magyac saß wie ein unbeteiligter Grenzpflock vor demselben, und somit zwischen den beiden in diesem Augenblick so feindlich gegeneinander gestimmten Heeren.
Ein rasches Gemurmel flog durch die Gruppe der Bauern – es sind Kiekis Uniformen – ein braves Regiment – wir sind verloren, wenn sie lebendig den Ort verlassen – warum nicht gar – sie müssen daran. –
Die letzte Äußerung kam von Slodezek, der Lärm ward stürmisch, die Masse bewegte sich gegen das Feuer zu, Slodezek voran; Valerius und Joel zogen ihre Säbel, Hedwig stand unbeweglich, nur ihre Augen glitten bald von Joels Gesicht auf das Antlitz des alten Manasse, bald von diesem auf jenes.
Magyac nahm ruhig einen Feuerbrand und hielt ihn dem andringenden Slodezek unter die Nase, daß dieser einen Schritt zurückfuhr. »Diese Leute sind die Gäste des Schmiedes von Wavre,« sprach er und sprang in die Höhe.[70]
Slodezek aber, ergrimmt durch den steten Widerspruch, riß ihm den Feuerbrand aus der Faust, schleuderte ihn in die Finsternis hinein und fiel dann mit der größten Heftigkeit über Magyac her. Das Signal war gegeben, der Kampf selbst erzeugt dann bei solchen Gelegenheiten den Kampf, wenn die Parteien kurz vorher noch so unschlüssig gewesen wären. Alles drang auf die beiden Soldaten ein, welche ihre wehrlosen Verbündeten zurückschoben, und sich so gut als möglich zu verteidigen gedachten. Das Handgemenge begann.
»Holla, ho!« rief plötzlich eine donnernde Stimme, und von unwiderstehlicher Kraft fühlten sich die ersten Kämpfer auseinandergerissen. – »Der Schmied, der Schmied,« schrie alles, und er stand wirklich zwischen ihnen. Die Flinte hing ihm auf dem Rücken, seine Hand war ohne Waffe, aber sein Blick genügte, dem Kampfe ein Ende zu machen. Er nahm seine dunkelrote Mütze ab, ein unendlicher Schmerz breitete sich über das gefurchte hartkantige Antlitz – die Hände faltend, sah er mit stierem Auge vor sich hin, und leise sprach er: »Vater Kosciusco, das sind deine Polen.«
Diese Worte waren bis zum entferntesten Bauer gedrungen – die erst noch so unbändigen Insurgenten standen mit niedergeschlagenen Augen da. Erst nach einer langen Weile sagte Slodezek halblaut: »Vater Florian, sie haben uns behorcht.«
»Was habt ihr für Geheimnisse vor ihnen?« fuhr der Schmied hastig auf, »sie hassen die Tyrannei so gut wie ihr, sie wollen unseres Landes Freiheit so gut wie ihr, sie beten zu Gott, was ihr bittet.«
Und nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Wir gehen alle nach Warschau, übermorgen abends um sechs finden wir uns vorm Hause des alten Krukowiecki, der heilige Adalbert nehm' uns in seinen Schutz.«
»Magyac voraus, zäume die Pferde und führe sie an den Kreuzweg, dort harrt der Wagen für das Fräulein.«[71]
Thaddäus, der den Schmied kannte, wußte, daß Eile nötig sei, und flog wie ein Roß über die Lichtung nach dem Walde zu. Die Bauern grüßten den Schmied mit einer Mischung von Ehrfurcht und Vertraulichkeit, und wohl auch mit einem Rest von Scham, daß sie sich vom heißen, zänkischen Blute zu einer Torheit hatten fortreißen lassen, und zerstreuten sich, hastig über die Lichtung schreitend.
Jener gemäßigte Alte sagte mürrisch zu seinem Begleiter, als sie in das Dunkel des Waldes traten: »Der Slodczek macht immer tolles Zeug – 's ärgert mich aber doch, daß mir die hübschen Pferde entgangen sind, ich witterte sie heut' abend, als ich durch den Wald nach dem Ringe strich, und ich dachte, einmal heimzureiten – 's war kein Glückstag heute.«
Auch der Schmied brach mit den übrigen auf. Valerius wollte ihn gesprächig machen, er gab aber nur kurze, wenn auch höfliche Antworten. Manasse liebkoste seinen Joel und erzählte ihm, wie er in jener Nacht des Aufbruchs aus dem Schlosse dort angekommen sei, um ihn zu warnen vor den sich immer mehr nach jener Seite ausbreitenden Russen. »Ihr wart fort, ich rannt' euch nach. Auf dem Walplatz im Walde fand ich einen schwerverwundeten Kosaken. Ich verband ihn, damit er mir den Weg zeige, den ihr eingeschlagen. Er wies hierherzu. – Die letzten, sagte er, seien hierherzu geritten, ein junger Soldat mit schwarzem Haar und Bart sei dabei gewesen. Das war der junge Deutsche. – Gleichgültig, Joel, ich bin gelaufen, ohne zu ruhen, und hab' dich gefunden.« – Dabei liebkoste er ihn heftig.
Sie traten in den Wald, aber eine große Helle in ihrem Rücken veranlaßte sie, noch einmal rückwärts zu schauen. Die Wildraufe und die Hütte standen in lichten Flammen. »Das ist der Feuerbrand,« sagte Hedwig, »welchen Slodczek ins Dunkel warf.« Der Schmied sah traurig nach den lustigen Flammen und sprach leise vor sich hin: »Nun habe ich nicht mehr, wo ich mein Haupt hinlegen könnte, wenn ich gehetzt[72] werde wie der Hirsch.« Er fuhr sich mit der flachen Hand über das harte Gesicht. – »Nun, wie die Heiligen wollen! Ist's doch unserem Herrn Christus nicht besser gegangen.« Er nahm die Mütze zwischen die Hände, und seine breiten, festen Lippen bewegten sich, als spräche er ein stilles Gebet.
Das Feuer leuchtete unheimlich über die Heide, sein Strahl hatte in der Einsamkeit nur ein paar Krähen aus dem Schlafe gescheucht, die mit ihrem Grabgesange über die Lichtung flogen. Der Schmied wandte sich mit rascher Wendung in den Wald, die andern folgten dem schweigsamen Führer.
Ausgewählte Ausgaben von
Das junge Europa
|
Buchempfehlung
Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.
54 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro