16.

[97] Es war spät in der Nacht, aber der Mond schien noch in lichten Strahlen. Valerius war so erfüllt von Gedanken, Träumen, unklaren Wünschen, daß er seine Wohnung noch nicht suchen mochte. Er wanderte durch die stillen Straßen und war bald wieder auf der Weichselbrücke. Wie so ganz anders sahen ihn jetzt die Wellen des Flusses, die Sterne, die Mondesstrahlen, die dunkel gewordenen Fenster der Paläste an; denn die äußeren Dinge erhalten erst ihre Augen und ihre Sprache von unserem Herzen. Selbst die trüben weltgeschichtlichen Gedanken, die ihn vor wenig Stunden hier zu Boden drückten, sie waren verschwunden, und wenn er sie herbeirief, so lächelten sie, als hätten sie ihren Scherz mit ihm getrieben.

»Es ist wirklich eine Maskerade,« sprach er vor sich hin, »dies wunderliche Leben bis in das geheimste Treiben unserer Gedanken hinein, und es kommt nur auf die Beleuchtung an, ob sie ein schauerliches oder ein lustiges Ansehen haben soll. Solch eine gewöhnliche Redensart: Das Leben ist eine Maskerade, und doch so tief und so richtig! Im Grunde sind in den vulgärsten Sprichwörtern und Phrasen alle Wahrheiten längst aufgefunden, und es ist töricht, sich darum zu quälen. Man verliert sein Leben, und die Weltge winnt nichts Neues.«[97]

Aber sein grübelnder Charakter verließ ihn auch in diesem Augenblicke nicht, auch von seinen glücklichen Momenten verlangte er Rechenschaft. Er erinnerte sich einer Zeit, wo diese Fürstin Konstantie einen durchaus ungünstigen Eindruck auf ihn gemacht hatte: ihr männlicher Stolz, ihre Keckheit, des Lebens Freuden wie eine Titanin an sich zu reißen, hatte ihm mißfallen, entschieden mißfallen. Und er konnte sich doch nicht leugnen, daß ihre plötzliche Erscheinung ihn jetzt mit einer Art Zauber überwältigt hatte. Aber er leugnete sich's. Stanislaus und der tiefe Blick, den er in ein so edles, so vortreffliches Herz getan hatte, die Überzeugung, welche er dadurch gewonnen, jenes romantische Polen, für das er ausgezogen von seiner Heimat, existiere wirklich, Hedwig mit dem Schimmer ihrer lieblichen Jugend, die ganze kräftige Freude des Festes – das alles, glaubte er, habe seinen Trübsinn verscheucht. »Und die Fürstin hat wohl auch dazu beigetragen,« setzte er leise hinzu. »Sie erinnert mich an die schönen Tage in meiner Heimat, an das poetische Grünschloß, an meine innige Kamilla! Ich habe dir versprochen, Kamilla, dein zu gedenken und dich zu küssen, wenn ich mich freue, vergib, daß es seit so langer Zeit zum ersten Male geschieht.«

Während er wieder nach der Stadt zurückkehrte, erkämpfte er von seiner Eitelkeit noch einen neuen Grund, und da es eben eine verstockte Eitelkeit war, die er sich in seinem früheren so abgemachten und sicheren Wesen zum Vorwurf machte, so verfolgte er mit der Strenge eines Büßers jeden Sieg, den er über diese Schwäche zu erringen glaubte. »Sie ist die Schwester des Eigennutzes, und dieser der Erbfeind aller Bildung,« sagte er, um sich in eine erhöhte Stimmung zu bringen und dadurch seinen Fehler desto lebhafter zu empfinden. »Sie hat von jeher die besten Menschen, und somit die besten Prinzipien unterjocht, die Führer und Träger neuer großer Ideen haben sich von der alten verderbten Welt betören lassen durch eitlen Prunk und Glanz, so[98] ist Cäsar, so Napoleon erlegen, so sind tausend weniger Bekannte immer wieder zurückgezogen worden unter den Troß der Gewöhnlichkeit.«

Er glaubte nämlich, ein geheimes Etwas in ihm sei geschmeichelt oder bestochen vom Range der Fürstin, und die mehr als gewöhnliche Auszeichnung, mit der sie ihm begegne, mache darum einen so günstigen Eindruck auf ihn, weil sie von einer Fürstin ausgehe.

Sein ganzer demokratischer Stolz empörte sich dagegen, aber was helfen Grundsätze gegen anerzogene Schwächen! In unserem Zeitalter der großen Standesunterschiede wächst mit einem großen Teile der niedriger Geborenen ein verborgener irdischer Himmel auf, in welchem die höheren Stände sich bewegen, nach welchem der Geist strebt, ohne es zu wissen. Denn dieser wunderliche Himmel liegt wie eine unklare, ungestaltete Ahnung in diesen Menschen, und wenn sie mit vornehmen Leuten in genaue Lebensverhältnisse kommen, so fühlen sie sich in einer erhabeneren Sphäre, und doppelt glücklich, ohne daß ihr Stolz die richtige Deutung dieser Illusion auffinden läßt. Das schreitet vom Bauer zum Bürger, vom Adeligen zum Fürsten, und durch alle Mittelglieder dieser Stände. Es hilft nichts dagegen als ein trostloser Indifferentismus, der keine Reize kennt, und die poetischen Menschen verfallen am ersten in diese Illusion. Denn der Begabteste sucht vor allem nach vollkommeneren Zuständen. Diese Illusion völlig verwischen, hieße die platte Prosa ins Leben einführen, und die edleren Demokraten wollen wohl nicht alle Unterschiede aufheben, sondern sie mildern, sie auf richtigere Unterschiedsmerkmale gründen und die Aussicht auf eine einstige völlige Ausgleichung eröffnen. Denn sie glauben an ein zukünftiges Äußerstes der menschlichen Zivilisation.

Aber all diese Dinge, welche sich Valerius auf dem Wege nach seiner Wohnung vorsprach, halfen ihm nicht von[99] dem unbehaglichen Gefühle, das in ihm erregt war. Jenes geheime Etwas – jenes geheime Etwas, das glaubte er wie ein Wild verfolgen zu müssen, das war der unbestimmte Makel, auf den er alle seine Aufmerksamkeit richten wollte.

Darüber hatte er sich in den Straßen verirrt und war in eine enge Sackgasse geraten. Das Quergebäude, das die Gasse schloß, hatte ein großes Tor, er glaubte eine Spalte davon offen und einen Menschen zwischen den Flügeln zu sehen. Der Mondschein fiel eben auf das Tor, Valerius sah, daß der Mensch eingeschlafen war, er wußte indessen keinen Ausweg aus diesem Straßengewinde und sah sich genötigt, den Schläfer zu wecken, um Bescheid zu erhalten. Als er ihn rüttelte und nach dem Wege fragte, fuhr dieser bestürzt in die Höhe »ja, ja, Herr!« nahm Valerius bei der Hand und führte ihn durch einen schmalen, dunklen Hof, nach einem alten Stallgebäude. Dabei bat er fortwährend mit leiser Stimme, der Herr möge ihn nur nicht verraten, daß er geschlafen, er müsse den ganzen Tag Holz hauen, um sein krankes Weib und seine Kinder zu ernähren, und es sei jetzt schon die dritte Nacht, daß er am Tore stehen, und den Fremden den Weg weisen müsse, da sei es ihm wohl zu vergeben. Dies und dergleichen sprach der Mann, und ehe noch Valerius über die wunderliche Erscheinung zu sich gekommen war und ein Wort gesprochen hatte, sah er sich von dem Führer in das Stallgebäude geschoben.

In dem weiten Raume brannten nur einige Handlaternen, welche durch die Hände, in denen sie schwankten, ihr flüchtiges Licht bald hier, bald dorthin verbreiteten. Bei diesen Streiflichtern erkannte Valerius, daß er unter eine Versammlung geraten sei, die sich eben aufzulösen schien. Niemand hatte sein Eintreten bemerkt, wenigstens nahm niemand Notiz davon. Er hörte noch die Worte: »Also nichts von Skrzynecki, alles für den Alten, und den Tod den Hunden« und ein beifälliges Gemurmel. Die Versammlung zerstreute sich;[100] und Valerius hüllte sich tief in den Mantel und ging mit von dannen, als ob er zu ihnen gehörte. Die Laternen waren verlöscht, er konnte niemand erkennen. Drinnen glaubte er einige bärtige Bauerngesichter erblickt zu haben, ein flüchtiger Mondblick zeigte ihm einige Militärmäntel, die vor ihm aus dem Tore traten, an welchem der schläfrige Pförtner mit abgezogener Mütze stand. Es war ein altes, zerhacktes Gesicht, ein roter Säbelhieb lief wie ein Blutstrich über dasselbe. Er lächelte vertraulich, als Valerius vorbeischritt, und flüsterte ihm ins Ohr: »Herr, das lohnte ja nicht der Mühe.«

Ein Teil der Versammlung, die nicht eben zahlreich zu sein schien, blieb noch im Hofe zurück, wahrscheinlich, um kein Aufsehen durch ihre Menge zu erregen. Der erste Teil, mit welchem Valerius fortschritt, zerteilte sich ebenfalls am Ende der Sackgasse, und dieser schlug auf gut Glück den ersten besten Weg ein, denn er hielt es nicht für ratsam, hier zu fragen. Es ist immer gefährlicher, zuviel zu wissen, als zuwenig. Ein Bauer war ihm gefolgt, und es schien ihm, als ob er schon am Tore aufmerksam von demselben Gesellen betrachtet worden sei. Der Mond trat eben in eine Lücke der Häuser, und das Gesicht des Bauers beugte sich plötzlich vor das seine. Es war Slodczek, der ihn forschend ansah, und gleich darauf wie ein Pfeil einem Trupp der übrigen nachstürzte, deren Schritte man noch in der Ferne hörte. Valerius erkannte das Drängende der Gefahr und ging raschen Schrittes nach der entgegengesetzten Seite. Im Gehen zog er leise seinen Säbel aus der Scheide und drückte ihn unter den Arm. Schritte kamen hinter ihm drein; sie konnten aber auch dem zweiten Trupp angehören, schnelles Laufen konnte ihn am leichtesten verdächtigen. Es bot sich eben eine Querstraße, er bog hastig hinein und rannte an eine Gestalt, der Mantel flog ihm zurück, sein nackter Säbel flimmerte in der Dunkelheit.

»Pardon,« sprach eine höfliche Stimme. Die Tritte[101] näherten sich schnell. Valerius fragte den Unbekannten, der ebenso in seinen Mantel vergraben zu sein schien, nach welcher Richtung zu der sächsische Platz läge. Die Stimme gab Bescheid, und er ging rasch die Quergasse entlang und bog in eine breitere Straße. Eine reitende Patrouille begegnete ihm, und er hatte nichts mehr von jenen Schritten zu besorgen. Jene Stimme beschäftigte ihn aber, er glaubte sie schon gehört zu haben, es schien ihm, als hätte sie die Worte: »Joachim Lelevel« gesprochen.

Jetzt sah er sich auf bekanntem Wege, es war die Straße, in welcher Hedwig wohnte. Als er an dem Hause vorbeiging, welches ihrer Wohnung gegenüberlag, glaubte er eine Bewegung unter der dunklen Haustüre zu bemerken. Genauer hinsehend erkannte er eine Mannsfigur, die in den Mantel gehüllt am Boden lag – ein schwerer Seufzer drang zu ihm auf. Valerius dachte, es sei ein Verunglückter, welcher der Unterstützung bedürfe; er neigte sich zu ihm, und fragte nach seinem Schmerze und ob er helfen könne. Eine kalte Hand legte sich in die seine, und eine Stimme wie aus den tiefsten Gräbern sprach: »Valerius, mir kann niemand helfen, ich bin ein Jude.«

Dabei richtete sich die Figur langsam auf und trat aus der Vertiefung des Portals – die bleichen Mondesstrahlen fielen auf Joels bleiches Gesicht. Er drückte dem Valerius die Hand, warf noch einen Blick auf das gegenüberstehende Haus und schritt in die Nacht hinein.

Das Schicksal schien in dieser Nacht keine gleichmäßige Stimmung in Valerius dulden zu wollen. Wie betäubt von den mannigfachen Wechseln kam er nach Hause und warf sich aufs Lager. Er wollte nichts mehr denken, nichts mehr überlegen, nichts fürchten, nichts hoffen, da er sich solchergestalt in der Hand von allerlei Zufällen sah, welche ihr höhnendes Spiel mit ihm trieben.

Aber unsere Gedanken sind eben der Himmel oder die[102] Hölle, welchen wir nicht entfliehen können, selbst im Schlaf nicht entfliehen können. Denn auch die Träume stehen in ihrem Dienste. Und es will uns sogar manchmal bedünken, als streckten gerade in die Träume fremde Mächte dreister als sonst wohin ihre Hände: im Schlafe sehen wir Gedanken und Bilder ausgewachsen vor uns stehen, deren Anfänge wir kaum in unserem Herzen empfunden haben. Unsere Bildung wird in den Träumen sogar verarbeitet und oft neu gewendet und gerichtet, unsere Selbständigkeit ist zu Ende, aber unsere Kräfte sind gewachsen, wir empfinden uns freudig oder schmerzlich als unmittelbare Werkzeuge höherer Gewalten. Darum ließen schon die ältesten Völker im Traume die Götter kommen und mit Menschen sprechen.

Darum nennen wir noch oft die begabtesten Menschen, die Poeten, Träumer, weil wir sie erfüllt sehen von übergewöhnlichen Kräften, von göttlichen Worten und Gedanken, die ihnen nur direkt von der Gottheit gekommen sein können im Schlaf und Traume. Wenn es ein Mittel gibt, die Zukunft zu erraten, so liegt es gewiß in den Träumen.

Diese Kenntnis der Zukunft war aber eben jene Frucht vom Baume der Erkenntnis, welche die neugierige Eva naschte, und die ihr den Tod bereitete. Die Erfüllung ist der Tod des Wunsches, und wer nicht mehr wünschen und hoffen kann, der ist des Todes.

Solch ein Erkenntnistraum sinkt oft in den Morgennächten auf die Menschen herab, aber der Himmel ist freundlich wie immer, und hüllt ihn in seine romantischen Nebel; nur wenn man in der späteren Zeit wieder einen Teil jenes Traumes erfüllt glaubt, da dichtet man eine nächste Folge, aber man weiß sie nicht, und kann in Furcht und Hoffnung weiter leben.

Warum soll man diese Offenbarung nicht glauben? Webt sie doch nur aus den Anlagen und Kräften, aus den verborgenen Gedanken des Schläfers seine Zukunft![103]

Das waren die träumerischen Dinge, welche den halbschlafenden Valerius in jenen Morgenstunden umflatterten; welch eine Geschichte aber mitten in diesen Gedanken durch seine Seele hinzog, davon wußte er am andern Morgen nur noch einzelne Stücke. Im Verlauf des Lebens dichtete er sich einen Zusammenhang.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 97-104.
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