15.

[81] Auf Flur und Treppen rannten gallonierte Bediente hin und her. Alles war licht und hell, die Musik tönte aus dem Saale – es war ein ganz anderes Element, in welchem sich Valerius wieder fand. Sein empfängliches Wesen nahm auch willig die neuen Eindrücke auf. Seit er das feste Steuer seiner Lebensrichtung verloren hatte, hielt er es fürs Beste, sich dem Leben anzufügen, wie es sich eben darbiete, sein Schifflein schwimmen zu lassen, wie es der Strom treibe. Aber seine Natur widersprach diesem Vorsatze faktisch alle Tage, sie fügte sich nicht so schnell als seine Einsicht. Von jeher gewohnt, zwischen festen Grundsätzen einherzuschreiten, lehnte sie sich jetzt täglich auf, und verlangte die alte Prüfung, den alten Kritizismus. So erziehen sich die besonnenen[81] Menschen die aufmerksamsten und zuzeiten störendsten Schulmeister in ihrem Busen, und es mag oft ein leichtsinniger Mensch eher gesetzt und besonnen werden, als ein gesetzter leichtsinnig. Jener leichte Sinn war es wenigstens, nach welchem Valerius so sehnlich verlangte, bisher immer umsonst verlangte.

Diesmal trat er aber wirklich heiterer als gewöhnlich in den Saal. Der Anblick eines Balles war ihm von jeher angenehm. Die zur Freude versammelten Menschen, die zur Freude geputzten Damen, die zur Freude herausfordernde Musik gewährten ihm immer den besten Eindruck. Es stimmte auch völlig zu seinen Ansichten, die Fröhlichkeit, den heitern Genuß zu erzeugen nach allen Kräften. Durch diesen Kanal der sogenannten Lebensphilosophie hatte nun einmal alles zu ihm dringen müssen, und wenn er auch jetzt anfing, dieses gemachte Wesen mit Unzufriedenheit anzusehen, wenn er sich auch lebhaft nach jener Unbefangenheit sehnte, die allen Reiz der Unmittelbarkeit über uns schüttet, so konnte er sich doch, wie gesagt, nicht so schnell seiner Vergangenheit entäußern; er mußte es geschehen lassen, daß der eben auf ihn anbringende gefällige Eindruck zum Teil in früheren Lehrsätzen seinen Ursprung hatte.

Es war aber auch wirklich ein erheiternder Anblick, der sich ihm darbot. Die polnischen Damen, berühmt durch die frische, lebendige Schönheit, jubelten in ihren stürmischen Nationaltänzen umher, der elastische Takt des Masurek hob sie wie beflügelt über den glatten Boden hin, die blitzenden Augen leuchteten siegestrunken, alle Bewegungen der weißen Arme waren kühn und schön – es war der Triumph des Vaterlandes, den sie tanzten. Man sah es, daß alle Kräfte und Fähigkeiten höher gespannt waren als im Alltagsleben, und wenn sich zuweilen jene einzelnen melancholischen Klänge ankündigten, die fast in keiner polnischen Nationalmusik fehlen, so dienten sie nur dazu, das Übermütige der Lust, wie es[82] an vielen Orten emporschlug, in milde Poesie zu wandeln. Man sah es, daß ein wirkliches Fest gefeiert wurde, daß eine gemeinschaftliche Seele durch alle wogte, und solch eine Freude teilt sich mit und dringt auf alles ein wie die erquickende Frühlingsluft, die an einem sonnigen Tage über ein Land daher zieht. Valerius fühlte sich plötzlich von einer so überschwellenden Bewegung ergriffen, daß er hätte aufjauchzen mögen vor Freude. Er glich damals in allem einem Bergstrome, der heute bis auf den Grund vertrocknet, morgen brausend über die Ufer schlägt, wenn ein warmer Regen in seine Schneeberge gefallen ist.

Die Polen gewährten in ihrer kurzen Periode der Unabhängigkeit eine merkwürdige Erscheinung. Mit ihrem liebenswürdigen Leichtsinne genossen sie die plötzlich erschienene Freiheit – oft stand der Feind nur einen Kanonenschuß von ihnen entfernt, und sie jubelten und jauchzten, als ob sie in alle Ewigkeit gesichert wären. In allem Glanze erschien damals jene nationale Poesie sanguinischer Völker, jeden Augenblick des Daseins auszukaufen, und auch den äußersten noch für eine Freude zu erbeuten. Dieses Element imponierte Valerius, dem Sklaven der Zukunft, über die Maßen. Er glaubte darin den Sieg eines starken Herzens über alle Äußerlichkeit zu sehen, und erregt von glücklicher Teilnahme stand er an die Wand gelehnt, dem fröhlichen Treiben zuschauend.

Der Masurek ging zu Ende, die Tänzer drängten sich durcheinander, Valerius fühlte sich bei der Hand ergriffen; es war Graf Stanislaus, der vor ihm stand und ihn auf das herzlichste begrüßte. Alle schönen Elemente, die man an den Polen bemerkt, wenn sie im bewegten Kriege oder auf der raschen Reise an uns vorüberfliegen, alle diese einnehmenden ritterlichen Vorzüge besaß der junge Graf. Er war hoch, schlank und schön, sein Haar glänzte in jener polnischen Mittelfarbe zwischen blond und braun, und ein solcher[83] Flaum flog kraus über seine Wangen und Lippen hinweg. Mehr als gewöhnlich drückte sich der Nationalzug einer leichten Melancholie in seinem Antlitz aus, und Valerius fühlte ihm gegenüber zum ersten Male das gesellige Vertrauen, welches zu offener, rückhaltsloser Mitteilung ermutigt. Diesen wesentlichen Reiz im Umgange mit Deutschen hatte er bis jetzt in diesem Lande völlig entbehren müssen: alle Menschen, denen er begegnet war, hatten ihm entweder eine leichtsinnige Oberflächlichkeit, oder eine versteckte, mißtrauische Art des Wesens bekundet, und wenn er sich darin geirrt hatte, so war er doch von niemand vertraulich, mitteilend angeregt worden. Joel war viel zu sehr mit eigenem Leid bedeckt, als daß man ihn noch hätte zur Teilnahme an solchen feineren Dingen auffordern können, wie es nationale Unterschiede, historische Richtungen für einen jungen Menschen sein mußten, der mit den ersten Lebensbedingungen des Herzens und der Gesellschaft zu kämpfen hatte.

Man darf sich also nicht verwundern, wenn Valerius tief aufatmete, als er solch ein Zutrauen weckendes Leben bald nach den ersten Worten der Begrüßung in seinem neuen Bekannten entdeckte. Er fühlte sich nun plötzlich nicht mehr allein in dem fremden Lande, und nun schien es ihm auch schnell, als ob dies der einzige Grund seiner bisherigen Mißstimmung gewesen sei.

Starke Menschen sind nur zu geneigt, tiefe, chronische Krankheiten ihres Geistes und Herzens wegzuleugnen, sobald sie irgend eine äußere Veranlassung entdecken, welcher sie das innere Unbehagen ihres Wesens zur Last legen können. Es ist gewiß wahr, daß Nationalitäten, die so wenig Berührungspunkte haben, als die deutsche und polnische, die unbequemsten Zustände erzeugen können, wenn der Vertreter der einen Landesart plötzlich mitten in das andere Land geworfen wird. Aber die Krankheit des Valerius lag tiefer. Dem sei nun wie ihm wolle, er glaubte einen vermittelnden[84] Genius zwischen den verschiedenen Volkssitten in Stanislaus gefunden zu haben; er gab sich ihm mit aller Schwärmerei einer so unerwarteten Freude hin, und so wie Gleiches immer Gleiches erzeugt, ward auch des jungen Grafen Herz durch solche Wärme immer offener und liebender; sie strichen Arm in Arm im Saale auf und nieder, und redeten sich bald so tief in Interessen und Freundschaft hinein, daß sie, Tanz und Gesellschaft vergessend, in die Seitenzimmer traten, um ungestört über Herzen und Völker sprechen zu können.

Graf Stanislaus gehörte zu der jungen Generation Polens, die in vielem wesentlichen abweicht von dem überlieferten Begriffe, den wir von diesem Volke haben. Schon von der ersten Teilung Polens datiert ein neues Moment der Bildung in Polen. Der einheimische Jammer trieb sie auf Reisen. Mancher neue Bildungsstoff kam mit den Heimkehrenden zurück. Aber die Umgestaltung des innersten Wesens eines Volkes macht sich nicht durch einige Reisende, jener slawische Grundstoff einer gewissen Wildheit war nicht im Handumwenden zu beseitigen, und die äußeren Einwirkungen ließen einer tieferen Läuterung des Volkscharakters keine Zeit. Die Teilungen des Landes nahmen alle Kräfte gegen außen in Anspruch. Indes offenbarte sich schon damals in der Konstitution vom 3. Mai 1793 jenes neue Zivilisationsmoment, von welchem hier die Rede ist, und der Hauptvertreter dieser neuen polnischen Richtung erschien in dem sanften und milden Thaddäus Kosciusco. Schon damals bildete sich eine preiswürdige Mehrheit, welche alle Forderungen der Humanität zu berücksichtigen, die barbarischen Überreste der polnischen Gewohnheiten zu vernichten und das Volk aus der Knechtschaft zu ziehen trachtete. Dieser Keim ist nicht untergegangen; die fortwährenden Stürme, welche das Land heimsuchten, haben seine besten Männer in allen Ländern Europas umhergeführt, und als die Revolution von 1830 ausbrach, fand sie eine Schar im Unglück gebildeter[85] Polen, welche aller neuen Erfindungen der Zivilisation mächtig, und über die alten Nationalvorurteile hinausgehoben waren; ja sie fand eine Jugend, welche nicht nur für die Freiheit, sondern auch für alle Forderungen einer modernen Humanität schwärmte.

Zu dieser Jugend gehörte Graf Stanislaus. Und dieser junge Mann gestand dem Valerius, daß er nur in den Stunden des Siegesrausches an ein glückliches Ende dieses Kampfes glaube. Und dabei trat jener polnische Schmerzenszug wie das tränenweiche Gesicht eines Mädchens auf seine Züge, in seine Augen. »Die Revolution,« sprach er, »hat uns übereilt, noch liegen alle Bestandteile eines neuen Volkslebens chaotisch in uns durcheinander, noch ist die persönliche Eitelkeit, unser Erbübel, zuwenig gebrochen von der uneigennützigen Bildung, die ungeordneten Massen unserer bedeutendsten Kräfte werden sich in den Weg treten, und vereinzelt überwunden werden.«

Bei diesen Worten, welche Valerius mit tiefer Trauer anhörte, waren sie wieder an die Tür gekommen, die in den Saal führte. Vom Orchester herab rauschte eine Polonäse. Das ist der polnische Nationaltanz, welcher den ganzen Stolz des Volkscharakters ausdrückt, eine üppige Erinnerung an die früheren patriarchalischen Zustände. Es liegt eine siegreiche Unabhängigkeit in ihren Rhythmen, und sie scheint aus den frühesten Zeiten zu stammen, wo das Volk noch ohne Störung in aller Breite sich ausdehnen konnte, durch keinerlei Feindschaft zu Hast und Ungestüm aufgeregt wurde, wo es seiner sonnenlichten und prächtigen Heimat in Asien noch eingedenk war.

Ein eisgrauer alter Pole führte sie an, und zum lebhaften Erstaunen Valerius' war Hedwig seine Dame. Das schöne Mädchen strahlte in seiner Frische und in der lebhaften, phantastischen Nationaltracht wie die ewig junge Schutzgöttin des Landes selbst, die nur eben in ihrer Flüchtigkeit[86] oft andere Dinge neugierig betrachtet als das ihr anvertraute Land. Auf dem schönen Haare trug Hedwig ein zierliches, blitzendes Kaskett, und rot und weiß war ihre übrige blendende Tracht, bis auf die kleinen karmoisinfarbenen Halbstiefel, welche das hochgeschürzte Kleidchen mit aller Zierlichkeit des schöngeformten Beines sehen ließ. Kurze Handschuhe bedeckten nur den Unterarm, der übrige Arm, Nacken, Schulter bis an die mutig schwellende jungfräuliche Brust war lustig entblößt, und das fröhliche Fleisch lachte harmlos mit den strahlenden Augen. Valerius hatte sein inniges Vergnügen an diesem Anblick. Sein krankhafter Zustand war in der letzten Zeit so groß geworden, daß auch die weibliche Schönheit keinen Reiz für ihn hatte, nur die vollendetsten Formen konnten seinem künstlerischen Sinne ein flüchtiges Behagen erwecken, alle Sinnlichkeit – und es gibt eine solche von schöner Art – hatte völlig in ihm geschwiegen, alles Blut schien aus ihm gewichen zu sein. Indes, die Jugendlichkeit Hedwigs war nicht ohne eine Art von Erfrischung für ihn gewesen; jetzt sah er zum ersten Male das schöne herausfordernde Mädchen in ihr, und der freundliche Gruß, den sie ihm nickte, belebte seit langer Zeit zum erstenmal sein Auge mit dem muntern Wohlgefallen, das der Anblick eines schönen Mädchens erweckt.

War es ihm doch, als ob er die hohe Frauengestalt, die hinter Hedwig an der Hand des Grafen Kicki einherschritt, schon irgendwo gesehen! Sein Blick hatte zu fest auf jener geruht, und die andere war ihm dunkel wie eine Nebenerscheinung vorübergeglitten; der Glanz und das Klirren des Tanzes zog seinen jetzt erweckten Sinn vom Nachdenken ab, er schwelgte in diesem halbkriegerischen Triumphzuge. Fast alles war im Kriegskostüm, die meisten polnischen Tänze wurden von den Männern mit Sporen getanzt, und in der Polonäse fehlte auch der klirrende Säbel nicht. Die schlanken Gestalten, das pulsierende Leben in den kleinsten Bewegungen,[87] der Glanz der Augen, das Blendende in der freien Schönheit der lebhaften Frauen, die rauschende Musik, – alles das versetzte den sonst so trüben Deutschen in eine Art von Rausch. »Es wäre entsetzlich,« wendete er sich zu Stanislaus, »wenn diese Nation wieder unterläge.«

»Sie tanzen bis zum Grabe,« erwiderte dieser mit trauriger Stimme.

Valerius' Augen folgten dem leichten Schritte der schönen Hedwig, und wie von einem Schrecken getroffen, dachte sein Herz plötzlich an Joel: »In welcher dunklen Judenstube mag der Arme jetzt sitzen mit dem alten Manasse! Welch ein düsterer Gegensatz zu diesen in Licht und Glanz schimmernden Sälen! – O, können sie denn nie aufhören, diese grellen Kontraste der bürgerlichen Gesellschaft!«

Der Tanz war beendigt – wahrlich, jene Tänzerin des Grafen Kicki, jene hohe Gestalt, sie war es, die Fürstin Konstantie! Wie kam sie aus Deutschland mitten in diese ferne Stadt des Krieges? Valerius wußte nicht, ob er sich freuen sollte oder sich betrüben, es war wie ein Schreck, was ihn durchbebte, und er redete sich vor, die stolze, aristokratische Frau werde mit Hohnlächeln das verworrene Treiben einer jungen Freiheit betrachten, und dies sei es, was ihn befangen habe bei ihrem Anblick.

Während ihm diese Gedanken durch Kopf und Herz flogen, war die Fürstin neben dem Grafen Kicki ganz in seine Nähe gekommen und betrachtete Valerius mit festem, beinahe herausforderndem Blicke. Dieser, der eine unerklärliche Scheu empfand, die Bekanntschaft mit ihr zu erneuern, blieb einen Augenblick unschlüssig und ohne Bewegung, es mochte auch der natürliche Trotz sein gegen jene befehlenden Augen. Aber er glaubte plötzlich einen weichen, schmerzlichen Zug um den sonst so stolzen Mund zu sehen, das Verlangen, eine Landsmännin zu begrüßen, übermannte ihn, wie er glaubte, und er ging langsamen Schrittes ihr entgegen, um sich ihr vorzustellen.[88]

Eine schnelle Freude flog über ihr edles Gesicht, und sie empfing ihn auf das Verbindlichste.

»Sie sind so blaß, Herr Valerius? Sind Sie krank?« fragte sie mit weicher Stimme, »und auf der Stirn haben Sie eine große Schmarre?«

Sie hatte Französisch gesprochen, und Graf Kicki übernahm die Antwort: »Herr von Valerius übernimmt sich in Anstrengungen für unser Vaterland, bei Grochow ist er auf dem Walplatz liegen geblieben, und wir haben ihn lange für tot gehalten, unterdes hat er sich in den Wäldern mit marodierenden Russen herumgeschlagen – wahrhaftig, Herr von Valerius, Sie müssen eine Zeitlang den Dienst aussetzen und sich erholen – wenn wieder eine schöne Aussicht für uns Reiter kommt, eine schöne Fläche und jenseits himmelhohe Kürassiere, dann ruf' ich Sie, zuverlässig, Herr von Valerius, dann ruf' ich Sie.« – Damit beurlaubte er sich bei der Fürstin, indem er artig versicherte, der junge tapfere Landsmann würde sie am interessantesten zu unterhalten verstehen, und dem Hause des Wirtes soviel Ehre machen, als er seinem deutschen Vaterlande Ruhm bereite durch seine Tapferkeit für eine unterdrückte Nation.

Graf Kicki war der polnische Alcibiades: schön wie ein Gott, tapfer bis zur Verwegenheit, heiter, galant, liebenswürdig, ritterlich, war er der Abgott der polnischen Damen, der fabelhafte Paladin des Krieges. Alles schrie seinen Namen, wenn er durch die Straßen sprengte, die Damen eilten aus Fenster, und warfen Blumen auf ihn hinab, und kein Geliebter, kein Gatte verargte dies: der schöne Kicki war der Repräsentant ihrer nationalen Liebenswürdigkeit. Lächelnd und unbefangen, als wäre er aus einem Ritterroman heraus in die Straßen gesprengt, nahm er das alles auf, und grüßte rechts und grüßte links, und verschwand auf dem brausenden Rosse.

Die Fürstin sah ihm nach und sagte mit jenem vornehmen[89] Abandon, den Valerius schon an ihr kannte, gleich als ob sie sich bereits den ganzen Abend mit dem wiedergefundenen Bekannten unterhalten hätte: »Wahrhaftig, ein schöner Mann, und ein glücklicher Mann,« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu, »schön und glücklich sind die meisten dieser phantastischen Nation, sie leben in einem kindlichen Leichtsinne, einer liebenswürdigen Oberflächlichkeit dahin, als wäre das Leben ein Karneval, selbst die Idee ihres Vaterlandes ist ihnen eine stehende Maske geworden, für die man schwärmen und sich totschlagen lassen muß – still, still, ich spreche frivol in meiner Ballstimmung; Sie sind ein tiefsinniger, ernster Mann, ich weiß es. Machen Sie mir nicht das alte Professorgesicht, ich nehm' es ja zurück, das bunte Zeug, man muß die heiligen Dinge einer Nation nicht bespötteln, wo nähmen wir am Ende die Götter oder Götzen her, welche die Gesellschaft halten und das Höhere von dem Niederen scheiden – wie geht's Ihnen, Herr von Valerius? So heißen Sie ja wohl hier? Wo ist Ihr Haß gegen den Adel geblieben, daß Sie sich auf einmal solch ein adeliges ›von‹ gefallen lassen?«

Valerius konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, was zum Teil von dem gefälligen Eindruck herrührte, welchen die überwältigende Schönheit der Fürstin auf ihn machte. Sie hatte, während sie unter dem Sprechen einige Schritte im Saale hin ging, den Handschuh vom Arm gestreift, um eine neugierige Locke festzustecken, welche ihr auf den Busen herabgefallen war. Ihr voller Arm lockte in seiner Krümmung das Auge des Begleiters, der warme Handschuh, den er hielt, strömte das Frauenleben verführerisch in seine Nerven, und es war nicht zu verwundern, wenn Valerius diesmal die neckenden Herausforderungen der Fürstin unbeantwortet ließ, und kaum mit halben Worten etwas auf die letzte erwiderte.

»Es ist nicht wie in Deutschland, Durchlaucht, mit den[90] Titulaturen, die Leute fragen nicht nach meiner Geburt, ich gehöre zur höheren Klasse, und da werde ich Valeriuski, von Valerius genannt, ich mag wollen oder nicht.«

»Ganz recht,« nahm die Fürstin die Rede auf, und ließ sich ihren Handschuh wiedergeben, »dies Land der Aristokratie ist darin liebenswürdig, die kleine adelige Gewürzkrämerei Deutschlands ist ihnen unbekannt – ein freier unabhängiger Mann ist ein Edelmann – aber antworten Sie doch, Herr von Valerius, wie geht's Ihnen – lassen Sie mir diesen Namen: Herr von Valerius; ich muß Ihnen die Schwäche gestehen, daß es mir leichter ist, als das harte Herr Valerius. Dies ›von‹ ist mir durch die Gewohnheit so notwendig geworden, man ist in Deutschland nur mit solchen Leuten umgeben, die es führen, Sie sind mir fremder, wenn ich es weglasse, und ich möchte nicht gern, Herr von Valerius, daß Sie mir fremder seien, als Sie sich ohnedies machen. Antworten Sie mir recht offen: Wie geht's Ihnen? Sind Sie glücklich, sind Sie zufrieden?«

Valerius schüttelte wehmütig den Kopf.

»Das freut mich, Sie werden mich nicht mißverstehen, Sie sind ein Poet und erraten meinen Ideengang, oder doch irgend einen. Es soll Ihnen nicht gut gehen bei diesem törichten Leben – die Menschen sind der Opfer nicht wert, und warum vernachlässigen Sie diejenigen, die Ihnen nahe stehen, um ins Blaue hinaus für die Menschheit zu wirken! Was ist die Menschheit? Der Mensch, der neben Ihnen steht. Sprechen Sie nichts darüber, ich bitte; ein andermal, nicht hier. Kennen Sie dort das schöne Mädchen, bei dessen Anblick sich vorhin Ihr trauriges Gesicht belebte? – Ja, ja, ich habe Sie beobachtet, wären Sie ein anderer Mann, o würde ich glauben, jene unerfahrenen jungen Augen hätten eben in aller Unschuld Ihr Herz getroffen, aber Sie haben keine Zeit zu solchen Dingen, Ihre historischen Gedanken lassen Sie nicht zu Privatneigungen kommen. Nicht wahr,[91] ich kenne Sie? – Indessen, gerade die große Jugend dieses schönen Mädchens könnte Ihnen gefährlich werden, ich weiß, Sie suchen jene Unbefangenheit, weil Sie eine dunkle Ahnung haben mögen, daß sie Ihnen selbst fehlt. – Ihr Gesicht voll Verwunderung, Herr von Valerius, ist für mich sehr unterhaltend, es steht Ihnen völlig neu und originell, da sie sonst immer alles wissen und durch nichts überrascht werden, oder wenigstens durch nichts sich überraschen lassen. Es ist da nichts zum Verwundern, wir Frauen bemerken es nebenbei, ohne daß wir handwerksmäßig auf das Beobachten ausgehen, und unsere Bemerkungen sind oft tiefer, weil es die schnellen Gefühle sind, von denen sie uns zugetragen werden. Fast jede Frau betrachtet eine neue Männerbekanntschaft mit den Beziehungen der Liebe, der Mann mag noch so reizlos und uninteressant sein, die Frau forscht überall an ihm, ob nichts Liebenswürdiges aufzufinden sei, und solange sie nicht vom Gegenteil überzeugt ist, wird ihr der Mann nicht völlig gleichgültig. Das Lieben und Geliebtwerden ist nun einmal unser Element – natürlich ist es dabei nicht immer auf Liebesverhältnisse abgesehen, was man so zu nennen beliebt, sondern nur auf die Frage des Interesses oder der Gleichgültigkeit. Ich bin aufrichtig und sage, was die meisten Frauen verschweigen. Sie können nun aber auch meinen Beobachtungen Glauben schenken und sie der Berücksichtigung wert achten – lieben Sie jenes Mädchen, oder sind Sie auf dem Wege sie zu lieben? Geschwind, ohne Ausflucht.«

Valerius lächelte und gestand, daß ihm Hedwig heut zum erstenmal als ein schönes Mädchen aufgefallen sei, übrigens drückte er nicht ohne eine leichte Ironie der Fürstin seine Verwunderung aus über solch ein plötzliches und ungewöhnliches Verhör.

»Ich glaub' es,« fiel sie ihm schnell in die Rede, und eine leichte Röte flog über ihr Angesicht, »ich glaub' es;[92] Historiker wie Sie, begreifen das nicht. Das sind die Staatsangelegenheiten der Weiber, in diesem Fache müssen wir von allem genau unterrichtet sein; wir haben auch unsere historischen Interessen. Wer wird auch so ungezogen sein und eine Dame gleich bei der ersten Begrüßung fragen, was sie plötzlich aus Deutschland nach Polen geführt habe. Sie müssen sich diplomatisch ausbilden; nach dem Zweck und Ende fragt man wie billig eben am Ende, wenn man sich die Hand zum Abschiede drückt. Ich langweilte mich in Deutschland, mein lieber Landsmann, ich sehe die Menschen am liebsten in ihren Leidenschaften, da tritt alle Schönheit, aller Rest von Göttlichkeit hervor, da ist das Leben aus dem Sumpfe der Gewöhnlichkeit erhoben, ich habe nicht Lust, meine Jugend reizlos hinzubringen; die Zeit kommt früh genug, wo man nicht mehr reizt, nicht mehr gereizt wird, und nichts Besseres tun kann als lesen und denken und philosophieren und Befriedigung und Ruhe nach innen und außen suchen. Was mir Interesse verspricht, das such' ich auf; wenn Sie durchaus Tugend haben wollen, nun wohl, ich halte das für Tugend, Gottes Welt so schön zu finden, als es unsere Kräfte nur immer erlauben.

Also Sie kennen dies Mädchen schon länger? Erzählen Sie mir doch, was Sie hier für ein Leben getrieben haben; armer Mann, der schwere Hieb über den Kopf konnte Sie töten. So viel ist doch die Geschichtskenntnis nicht wert. Freilich, was ist der Mann, der nicht mit dem Leben zu spielen vermag; Sie haben ganz recht, und die Schmarre und der Schnurrbart stehen Ihnen gut. Bei solchen denkenden Leuten haben die Beweise des männlichen Mutes etwas Rührendes, bei den leeren Köpfen sieht es leicht so aus, als gehörte das zum Handwerk. Aber Sie müssen noch leiden, die Wunde hat noch ein frisches Ansehen, ein ganz frisches, Sie Armer. Nicht wahr, Sie werden dem Kicki folgen, und sich eine Zeitlang schonen, nicht wahr? Es ist mir ganz neu[93] an Ihnen, daß Sie so freundlich lächeln und eine schwatzhafte Frau so liebenswürdig anhören können.

Indessen, mein junger Landsmann, Sie müssen ein anderes Leben hier beginnen, wenn Sie nicht in vage, gefährliche Verwirrnisse geraten wollen. Wo waren Sie heut abend, ehe Sie so spät in diesem Saale erschienen?«

Valerius sah sie verwundert an.

»Im ›patriotischen Klub‹ waren Sie, mitten unter den wildesten, exaltiertesten Demokraten, mit denen in kurzem der offene Kampf losbrechen wird; lassen Sie diese ultrademokratischen Dinge, die Ihnen gar nicht einmal so natürlich sind, als Sie glauben. Sie haben sich vielmehr diese Grundsätze als eine Art von Tugend angeeignet, weil Sie aus Trieb nach Charakterstärke eine Art Schwärmer sind, ein Systematiker.«

Hier unterbrach der Graf Kicki die Fürstin und führte sie zur Tafel. Valerius stand überrascht von all den plötzlichen Erscheinungen, die wie ein lustiges Gewitter über ihn hereingebrochen waren, und bemerkte es kaum, daß Hedwig und Stanislaus zu ihm traten, und daß das fröhliche Mädchen über seine Geistesabwesenheit lachte. Aber er fühlte es mit innigem Behagen, als sie ihren Arm in den seinen legte. Den andern reichte sie Stanislaus und unter ihren Scherzen und liebenswürdigen Vorwürfen, daß der Herr von Valerius sie auf eine abscheuliche Weise ignoriert und kaum von weitem gegrüßt habe, kamen sie in den Speisesaal. Die Fürstin saß nicht weit von ihnen, und ihre Augen sahen mit einem seltenen Gemisch von Wehmut und Lebhaftigkeit auf den jungen Deutschen, wenn er angelegentlich mit Hedwig plauderte, und wenn seine Augen mit unverhehltem Wohlgefallen auf den Zügen des glänzenden Mädchens ruhten. Sie saß dicht neben ihm, und wenn sie eilig eine Bemerkung mitzuteilen hatte, da war ihre rote Wange, ihr fröhlicher, kleiner Mund so dicht an dem bleichen Gesichte des Nachbars, daß selbst[94] ein unbefangener Zuschauer hätte glauben können, statt der Worte würden einmal plötzlich Küsse gewechselt werden.

Stanislaus saß ohne Aufmerksamkeit für die beiden schwatzenden Leute neben ihnen. »Ich bin nur neugierig,« sagte Hedwig, »was aus uns beiden Verlobten werden soll, wenn wir immer so wenig Zeit füreinander haben, sehen Sie nur, wie Stanislaus unverwandten Auges da hinüber guckt nach jenem alten Schnurrbart, ich wollte, Sie wären mein Verlobter, Valerius, Sie erzählen mir doch hübsche Geschichten, aber sind Sie auch so gut, so gut und lieb wie Stanislaus? Sie glauben es nicht, wie sehr er's ist, wie sehr!«

»Und denken Sie gar nicht an den armen Joel?« sprach leise Valerius.

Hedwig errötete, schlug die Augen nieder und sagte nach einer Weile mit noch leiserer Stimme: »Ach der arme Joel! – Aber – ach, was weiß ich.«

Als die Tafel aufgehoben wurde, geleiteten die beiden jungen Männer Hedwig an den Wagen, sie war müde und schläfrig, und sagte ihnen kaum »Gute Nacht.« Beide stiegen die Treppen wieder hinauf, da begegnete ihnen jener alte Schnurrbart, den Stanislaus während des Essens unablässig betrachtet hatte. Es war ein bejahrter stattlicher Mann, sein hartes und stolzes Gesicht war von einem starken grauen Knebelbarte beschattet, einem feineren Beobachter entgingen aber jene Winkel seiner Züge nicht, in welchen eine lauernde Verstellung, oder List oder Geschmeidigkeit kauerte; es war nicht leicht, das richtige Wort dafür zu finden. Seine Kleidung war sehr einfach und unscheinbar, aber national, der Bediente reichte ihm einen alten Militärmantel, und Stanislaus, der sich schnell bei seinem Freunde verabschiedete und mit jenem Alten die Treppe wieder hinabstieg, nannte ihn »Herr General.«

Es kamen indes mehr Gäste, die sich entfernten; Valerius fürchtete, seine schöne Landsmännin nicht mehr zu finden, er[95] ließ sich keine Zeit, nach dem Namen dieser Erscheinung zu fragen, die ihm interessant war.

Die Fürstin ging im Saale auf und nieder, umringt von einer Menge polnischer Herren. Ihre Schönheit hatte die lebhaften Männer angezogen, und ihr gewandter Geist spielte mit den feurigen Huldigungen, welche diese Nation mit dem ihr eigenen ritterlichen Ungestüm darbrachte, und immer eifriger darbrachte, je spröder, leichter und vornehmer die Fürstin dergleichen aufnahm. Keiner sah sich sonderlich beachtet, jeder war zuversichtlich, und ihr Eifer, die Aufmerksamkeit der reizenden Frau zu fesseln, wurde immer lebhafter, je weniger Konstantie davon Notiz nahm. So bildete sich jene stürmische Unterhaltung um sie her, wo im Grunde niemand Anteil an dem Gegenstande des Gesprächs nimmt, obwohl alle dafür zu glühen scheinen, jene Unterhaltung des Egoismus, wo nur jeder hervorzutreten trachtet.

Valerius hörte eine Zeitlang hin und folgte mechanisch der Gruppe; die Fürstin sah ihn nicht, und es schien ihm, als läge ein ungewöhnlicher Ernst auf ihrem Gesichte, ein Ausdruck von Kummer, den er niemals auf diesen ungetrübten Formen erblickt hatte. In der Mitte des Saales wartete er, bis die Gruppe vom andern Ende wieder zurückkam, dann ging er ihr entgegen. Denn die Flanken dieser Schlachtordnung waren so stark besetzt, daß man zu der belagerten Festung nicht durchzudringen vermochte. Konstantie lächelte, als sie ihn kommen sah, es lag Freude, Wehmut und auch etwas Stolz auf den schönen Lippen. »Apropos,« rief sie ihm entgegen, »ich habe Briefe von Ihren Freunden aus Deutschland für Sie mitgebracht,« und nach diesen Worten sagte sie den Herren »Gute Nacht,« ergriff den Arm des Grafen Kicki, und verließ den Saal. Valerius ging ebenfalls nach seinem Mantel; der Gedanke an die deutschen Briefe erfüllte seinen Geist, und träumerisch stieg er die Treppe hinab. »Gute Nacht, lieber Träumer,« flüsterte[96] kaum hörbar eine deutsche Stimme neben ihm. Als er sich ermunterte, sah er den Grafen und die Fürstin vor sich hineilen, und ein Schwarm von jener Gruppe aus dem Saale stürmte an ihm vorüber nach der Tür. Dort schwangen sie sich rasch auf ihre Pferde und begleiteten den Wagen Konstantiens. Diese ungewöhnliche Courtoisie machte einen angenehmen Eindruck auf Valerius. Man sieht gern das Heimische geehrt in der Fremde. Er glaubte wenigstens, dies sei der Grund seines Wohlgefallens an dieser Szene.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 81-97.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das junge Europa
Heinrich Laubes gesammelte Werke: Band 1. Vorbericht und Inhaltsverzeichnis. Das junge Europa. Band 1. Die Poeten
Das junge Europa. 3 Bde. Bd.1: Die Poeten Bd.2: Die Krieger. Bd.3: Die Bürger.
Das junge Europa

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon