2.

[9] Es schien, als ob sie den Körper eines bedeutenden Offiziers suchten. Alle Leichen wurden betrachtet, und sie kamen dabei Manasse so nahe, daß ein Reiter mit seinen Sporen in des Juden Mantel hängen blieb. Manasse regte sich nicht, das morsche Tuch gab nach, der Reiter sah sich um, aber da die Laterne auf einer andern Seite leuchtete, so entdecktes er den zitternden Juden nicht.[9]

Als sich die suchende Gruppe ein wenig entfernt hatte, machte sich Manasse auf und schlüpfte nach der Gegend, wo er Joels Ruf vernommen hatte. »Joel – Joel!« flüsterte er ununterbrochen mit gedämpfter Stimme. Die Laterne durfte er nicht zum Vorschein bringen, und so kam's, daß er in einen tiefen Graben stürzte, dessen Oberfläche mit einer dünnen Eisrinde bedeckt war. Die Laterne zertrümmerte und verlosch. Er raffte sich mühsam auf – »Manasse – Manasse!« klang's in seiner Nähe. Das gab ihm Kraft, sich vollends aus dem Graben herauszuarbeiten. »Mein Sohn, mein Joel, mein Joel!« – und so eilte der Durchnäßte dem Rufe zu.

Er fand seinen Sohn halb ausgerichtet, und nun brach aus dem Alten ein wirbelndes Gewitter von Empfindungen los. »Mein Sohn, mein Joel, Esthers Sohn – lebst du, wo haben dich die Ismaeliter verwundet, o mein Joel!« Und dabei fuhren zitternd, liebkosend, schnell, aber behutsam die Hände des Alten über den ganzen Körper des Sohnes.

Joel beruhigte ihn mit der Versicherung, die Wunde sei unbedeutend und hindere ihn nur am Gehen.

»Auf, mein Sohn, hänge dich auf meine Schultern, der Wagen harrt unserer im Hölzchen.«

Joel aber bedeutete seinem Vater, erst müsse sein Nachbar dahin gebracht werden, dieser habe ihn durch den letzten Schluck aus seiner Flasche wieder ins Leben zurückgerufen.

Manasse war eine Zeitlang sprachlos, der Ideengang seines Sohnes mocht' ihm augenblicks ganz unfaßlich erscheinen. – »Törichter Joel, mach, hänge dich auf meine Schultern, ich werde Mühe haben, dich über den Graben zu bringen – ach Sohn meiner Esther,« und Schluchzen hemmte seine Worte, er fühlte von neuem besorgt an Joels Körper herum. »Joel, wo ist die Wunde, welche dir die Gottlosen geschlagen?«

Joel bestand darauf, daß erst sein Nachbar in Sicherheit gebracht werde. »Er war der bravste Soldat, und da liegt[10] er erstarrt, kaum fühl' ich noch einen Rest Leben in ihm, Vater Manasse, eilt, schafft ihn zum Wagen, und holt dann mich.«

Jetzt brach des Alten Leidenschaft in stürmende Worte aus, er schalt seinen Sohn einen halbchristlichen Narren, und man wußte nicht mehr, ob das unterbrechende Schluchzen mehr Mitleid oder Zorn gegen seinen Joel sei – »was kümmert dich der tote Idumäer, komm, halte dich fest!« – Und damit schickte er sich an, seinen Sohn aufzuladen.

Joel weigerte sich entschieden; des Alten Zorn stieg auf das höchste – da kamen die suchenden Russen auf sie zu, wahrscheinlich aufmerksam gemacht durch die lauten Worte des Zwiegesprächs. Manasse drückte schnell seinen Kopf in den Schoß, seines Sohnes, und bedeutete diesem leise, sich still zu verhalten. Aber obwohl die. Russen schon dicht am Graben waren, so konnte er es doch nicht unterlassen, seine heftige Entrüstung fortzumurmeln über die Torheit Joels; wie ein gereizter Hund leise fortknurrt, wenn er nicht mehr bellen darf.

Die Russen standen am Graben und horchten – Manasse regte sich nicht mehr; sie wendeten sich nach einer andern Seite.

Bald erhob sich der vorige Streit zwischen Vater und Sohn aufs neue – Manasse raufte sich den Bart und schlug bald nach Joel, bald streichelte er ihn. Er fand in seinem Kopfe nicht die kleinste Beschönigung für solchen Wahnsinn, und dies brachte ihn immer von neuem außer sich.

Joel aber blieb unerschüttert, und so mußte der Alte endlich weichen, wenn er den eigenen Sohn nicht seinem traurigen Schicksal überlassen wollte. Der Nachbar Joels lag auf zwei toten Kürassieren, also zum Teil im Trocknen, Joel hatte auch ein Stück Mantel über ihn gebreitet.

Unter heftigen Verwünschungen lud ihn Manasse auf sich und schleppte ihn ziemlich unsanft durch den Graben. Dann kam er zurück und brachte auch Joel hinüber. »Laß uns forteilen,« rief er, am andern Ufer ankommend, »der Mensch ist tot.«[11]

»Und hörst du nicht sein Stöhnen, Vater Manasse,« damit machte er sich heftig vom Vater los, fiel an die Erde und stieß einen Schmerzensschrei aus, da der Fall seine Wunde berührt hatte.

»Joel, mein Blut –«

»Bei unserer Mutter Esther beschwör' ich dich, Vater Manasse, bringe den Mann fort!«

Seufzend tat es Manasse. Keuchend kam er zurück, trocknete sich den Schweiß und lud seinen Sohn auf den Rücken. »Meine Glieder zittern vor Frost, und doch rinnt der Schweiß über meine Stirne, kaum hab' ich den Wagen wieder gefunden – o Gott meiner Väter, wie züchtigst du mich, weil mein eigen Blut, dieser Joel, mit den Ismaelitern unsere Sitten vermengt, o, törichter, törichter Joel.«

Während er abgebrochen diese Worte sprach, waren sie in die Nähe jenes Verwundeten gekommen, welcher dem Alten kurz zuvor den Weg zu seinem Sohne gezeigt hatte. Er bat in herzzerschneidenden Tönen, ihm zu helfen, und erinnerte den Alten an sein Versprechen, da dieser dicht an ihm vorüberging und trotz der Finsternis an der Stimme zu erkennen war.

»Vater Manasse, was hast du versprochen?«

»Schweig, Joel – nichts hab' ich versprochen!« – und rascher ging er vorwärts.

Immer kläglicher ward das Winseln des Zurückbleibenden. Sie kamen zum Wagen. Sorgfältig legte der Alte seinen Sohn in das Heu, womit der kleine verdeckte Wagen angefüllt war, nahm die Pferde am Zügel und brachte mit vieler Vorsicht den Wagen aus dem Gehölz.

»Vater Manasse, hole den Unglücklichen!«

»Schweig, kindischer Joel, kann ich das ganze Schlachtfeld meinen kleinen Krabben aufladen, kindischer Joel!«

Damit setzte er sich vornhin und fuhr in die Nacht hinein, die ein wenig heller geworden war durch den dichten Schnee, welcher seit einigen Minuten dicht herabfiel.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 9-12.
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