[12] Es war das Schlachtfeld von Grochow, aus dessen Nähe die kleinen Pferde den Wagen zogen. Am Tage vor dieser unfreundlichen Nacht hatten die Polen und Russen zum dritten Male auf das erbittertste miteinander gekämpft. Die Ebene von Warschau, welche sich ostwärts an die nahen Wälder erstreckt, war drei Tage lang der Schauplatz mörderischen Kampfes gewesen.
Bekanntlich fließt der breite Weichselstrom rechts an der polnischen Hauptstadt Warschau vorüber. Die eigentliche Stadt liegt also an seinem linken Ufer nach unseren Ländern zu, und wenn man so sagen darf, auf der europäischen Seite. Am Ufer des Flusses hin prangen große Paläste, und das stolze Warschau gewährt von der großen Brücke, welche hinüber führt zur östlichen Vorstadt Praga, einen königlichen Anblick. Man irrt sehr, wenn man bei dem Worte »polnische Hauptstadt« seine Vorstellung nur ein wenig von dem Anblick und Begriffe polnischer Ortschaften steigert: Warschau gehört zu den imponierendsten Hauptstädten Europas.
Die Vorstadt Praga nun, ein befestigter Brückenkopf, war der erste Stützpunkt der polnischen Armee, welche sich auf den Feldern angesichts der großen Waldungen ausgebreitet hatte. Die Russen rückten von Osten her in den letzten Tagen des Februar aus jenen Wäldern heraus. Diebitsch war ihr Heerführer, und angesichts Pragas entspannen sich die zwei Tage lang dauernden stürmischen Gefechte, welche man die Schlacht bei Praga nennt. Sie führten äußerlich zu keinem besonderen Resultate, und die Schlacht wird von der Geschichte eine unentschiedene genannt, war aber von großem moralischen Einflusse. Überall hatte man erwartet, Diebitsch werde mit der großen russischen Armee die nach Zahlenverhältnis unbedeutenden Truppen der Polen werfen, über die Pragaer Brücke nach Warschau hineindringen[13] und so den Aufstand endigen. Das war indessen nicht gelungen. Die historisch bekannte leidenschaftliche Vaterlandsliebe der Polen, welche man bei dem sonstigen Wesen dieser Nation hier und da bereits für Prahlerei hielt, hatte auf eine überraschende Weise Wort gehalten. Und zwar unter den ungünstigsten Verhältnissen. Denn es gebrach ihnen vor allen Dingen an einem Mittelpunkte ihrer militärischen Kraft, an einem verlässigen Heerführer. Chlopicki, in der Zeit des Aufstandes am letzten Tage des November zum Oberbefehlshaber ernannt, hatte nie an die Möglichkeit geglaubt, dem mächtigen Rußland militärisch die Spitze bieten zu können, hatte sich auf Unterhandlungen eingelassen, die Rüstungen vernachlässigt, und am Ende störrisch seine Diktatur niedergelegt, als die zum Äußersten entschlossene Nation ihm in den Weg trat. Chlopicki. war aber der einzige populäre Mittelpunkt des Heeres, unzweifelhaft tapfer und ein tüchtiger Führer aus der Napoleonischen Schule. Die Wahl eines neuen Führers war unsäglich schwer. Einen zweiten so hervorragenden General gab es nicht, jede Wahl mußte also die nicht Gewählten kränken. Besonders bei einer so ehrgeizigen und eifersüchtigen Nation. Man entschloß sich zu dem traurigen Auswege, einen Nichtmilitär, den Fürsten Radzivil, einen alten, höchst wackeren Patrioten zum Generalissimus zu erwählen. In der Hoffnung, er werde nur für Chlopicki den Namen hergeben.
So geschah es nun wohl auch, denn der graue Chlopicki setzte sich zu Pferde und ritt hinaus ins Lager. Er hat ein starres, gerötetes Soldatenantlitz, weißgrauen Bart, hellblaue scharfe Augen. Prüfend sah er nach den Wäldern hinüber, aus welchen die Russen sich entwickelten, und ordnete die Treffen. Aber es war ein halbes Wesen mit dem Kommando ohne Titel. Nicht alle Führer gehorchten unbedingt und schnell, und es war mehr die erstaunenswerte ritterliche Tapferkeit der auf eigene Hand fechtenden Korps, welche die Schlacht in den Tagen bei Praga aufrecht erhielt.[14]
Beide Heere waren übrigens in diesen Tagen noch nicht in voller Kraft. Abteilungen der polnischen Armee waren nordöstlich ein wenig vorgeschoben, um die Vereinigung eines großen russischen Korps mit Diebitsch zu hindern. Die überlegene Zahl der Russen hatte dies aber vereitelt, am Tage von Grochow war alles konzentriert.
Grochow ist ein kleines Dörfchen auf der Ebene von Praga. Nach diesem drängte sich an diesem Tage die Hauptschlacht. Ein Erlengebüsch war der Preis des Sieges, dasselbe Gebüsch, in welchem Manasse die Nacht darauf sein Fuhrwerk verbarg.
Diebitsch hatte am Ende bei so hartnäckigem Widerstande die Entscheidung des Tages auf einen großen Reiterangriff gesetzt, und Chlopicki war bei neuer Eroberung des Gebüsches von einer Granate niedergeworfen worden. Schon vorher hatte sein scharfes Auge die Entwicklung der Reitermassen am fernen Waldessaume entdeckt, und ununterbrochen hatte er nach Kavallerie gerufen. Aber er war nicht Generalissimus und Fürst Radzivil nicht bei der Hand. Noch als man ihn forttrug, wies er fortwährend mit seinem Pfeifenstummel zurück und flehte um Kavallerie.
Von Praga aus läuft mitten durch die Ebene die breite große Heerstraße in die Wälder hinein über Siedlce bis an die altpolnischen Provinzen. Sie war der Mittelpunkt des auf diese Tage folgenden Krieges, der rote Faden aller Treffen und Schlachten vor der bei Ostrolenka. Auf und neben dieser Straße war der kolossale Angriff von Reitern einhergedonnert, welchen Diebitsch angeordnet hatte. Auf der Straße selbst kamen die gewaltigen Kürassierregimenter, unter welchen das Riesenregiment Prinz Albrecht, an der Seite der Chaussee die leichtere Reiterei.
Dieser Angriff nun war durch den kalten Mut der polnischen Infanterie, welche sich in Karrees formierte, und erst in der dichtesten Nähe des Feindes ein mörderisches Rottenfeuer eröffnete, er war durch die gewandte Tapferkeit[15] der Kickischen Ulanen zersprengt worden. Die besudelten, zersprengten, abgematteten Reste, welche nach dem Saume des Waldes zurückkamen, nötigten Diebitsch, den Tag aufzugeben und in die Wälder zurückzugehen.
Bei diesem blutigen Reitergefechte waren Joel und sein Nachbar gefallen.
Durch Chlopickis Fall war aber auch unter den Polen eine solche Ungewißheit entstanden, daß niemand recht wußte, wie die Schlacht stand. Wer eben am Kampfe war, kämpfte aufs beste, ein großer Teil des Trains zog aber bereits schon im Rückzuge über die Brücke von Praga, und der Generalissimus Radzivil selbst hielt unsicher mit seinem Pferde am Brückenköpfe.
So lagen die Sachen an jenem rauhen Spätabende, und weder Manasse, der jenseits aus der Waldung gekommen war, noch Joel, der bald polnische, bald russische Partien vorübereilen gesehen hatte, wußte, wie das Schicksal des Tages entschieden worden sei. Im allgemeinen kamen indessen beide dahin überein, das Resultat für die Polen günstig anzusehen, da Manasse auf seiner Herfahrt durch den Wald nur mit Mühe den rückwärts marschierenden Russen ausgewichen war. Dies regte nun aber auch wieder die größte Bedenklichkeit auf, ob man sich auf den Weg nach der Heimat machen dürfe, da dieser eben durch jene Wälder führte, oder ob es geratener sei, nach Warschau zu fahren. Der Wagen kam eben an der großen Chaussee an, und man mußte sich entscheiden.
Manasse hatte viel gegen Warschau einzuwenden: es sei ein teurer Ort, man werde abgesperrt von allem Verkehr, das Haus in der Heimat bliebe allen Zufällen preisgegeben, an Pflege für den Verwundeten dürfe man auch nicht denken, da soviele Tausende darauf Anspruch machten. Im Hintergrunde lag ihm auch der lebhafte Wunsch, dem Sohne die Soldatenjacke wieder auszuziehen, worauf in Warschau durchaus nicht zu rechnen war. Zur Sicherheit kannte Manasse alle kleinen Wege durch die Wälder und meinte zuversichtlicher,[16] als sonst seine Art war, man würde gewiß glücklich durchkommen, wenn man sich weit genug rechts von der großen Straße halte nach dem Schlosse des gnädigen Herrn zu.
Anfänglich hatte sich Joel lebhaft widersetzt, der letzte Zusatz schien ihn aber anders zu stimmen. Der Alte mochte ihn nicht ohne Absicht beigebracht haben, Joel schwieg – Manasse fuhr quer über die Chaussee nach dem Walde zu.
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