24.

[165] Das Glück einer brausenden Liebe hatte Valerius in allen Organen verändert. Er sah jetzt alles versöhnlich an, freundlich, liebevoll. Das ist ja eben das wunderbare Geheimnis dieses Gefühls, daß es der ganzen Welt eine andere, eine glänzende Farbe gibt, und zwar nicht bloß der Gedankenwelt, sondern auch den scheinbar unbedeutendsten äußerlichen Dingen. Ein Liebender fühlt sich an den Quellen aller Triebe, er sieht mit Staunen ihre unendliche Kraft, und darum vergibt er am leichtesten alle Leidenschaften.

Die wilden, verzehrenden Sympathien und Antipathien, welche den jungen Deutschen noch eben entsetzt hatten beim Anblick der polnischen Zustände, erschienen ihm jetzt in einem viel besseren Lichte. Große Kräfte, meinte er, verlangen auch große, mannigfache und heftige Äußerungen.

Dieser neue Sinn drückte sich bis ins kleinste in seinem Wesen aus, denn die ganzen Erscheinungen unseres Innern, mögen sie Liebe oder Haß zu nennen sein, bemächtigen sich auch des ganzen Menschen. So kam es denn, daß sich bald wieder ein leidliches Verhältnis, namentlich mit Stanislaus, herstellte. Die Wahl Skrzyneckis hatte im Hause seines Vaters die beste Stimmung erzeugt; die aristokratische Partei fürchtet so gut wie die demokratische einen überragenden Krieger, denn sie ist in sich eben auch eine Demokratie. Skrzynecki war ein unbedeutender Edelmann, sein Ruhm war mäßig, und man hatte nicht zu fürchten, daß er sich den Meinungen und der Anordnung der Korporation überheben würde. Diese Beruhigung verlangt aber jede Partei,[165] auch wenn sie noch gar nicht weiß, was sie will. Sie fürchtet vor allem, ein bloßes Instrument zu werden. Der alte Graf nun besonders war nach dieser Wahl ganz in seinem Element: er gehörte zu denen, die alles Edle und Hohe vorzubereiten trachten, die sich vorreden, die Erreichung dieses Zweckes sei ihr ganzes Streben, die Ausführung ihrer philantropischen Pläne aber soweit wie möglich hinausschieben. Ihre angebornen Neigungen sind im Grunde wenig stärker als ihre Kultur, und sie sind nie glücklicher, als wenn sie die Aussicht vor Augen haben, daß sie auf dem eingeschlagenen Wege zu Reformen gelangen können, ohne heute oder morgen diese Reformen beginnen zu müssen. Ihre Bildung ist dann geschmeichelt, und ihre Gewohnheiten schweigen, weil sie noch nicht bedrängt werden.

So war's mit dem alten Grafen, als Skrzyneckis Erwählung stattgefunden hatte; es konnte alles geschehen, und man ward zu nichts getrieben. Keine Übereilung, keine Übereilung! ist das Losungswort dieser Leute, die sich in allen gesellschaftlichen Kreisen vorfinden.

Valerius, der es nicht ertragen konnte, daß er nach seinem Austritte von der Armee nicht mehr für vollgültig im Salon angesehen wurde, daß ihn alles mißtrauisch, kaum mit notwendiger Höflichkeit behandelte, trug sich ernstlich mit dem Entschlusse herum, das wieder ins Gleichgewicht zu bringen. So selbständig er auch zu sein glaubte, so sehr hing er hoch von seiner Umgebung ab und von der Meinung derselben. Achtung, ja fast mehr als Achtung war ihm Bedürfnis, und das konnte ihn sogar vermögen, gegen seinen eigenen Glauben zu handeln, bessere Einsicht zu nehmen, und sich einer Gewöhnlichkeit unterzuordnen, welcher er sich weit überlegen fühlte. Hippolyt hatte ihn zwar einmal mit der Behauptung eingeschüchtert, der Einfluß von dem, was uns umgibt, ist stärker als alle Philosophie, er macht uns zum völligen Sklaven, sobald, wir allen Trotz aufgeben. Valerius[166] bebte vor dieser Sklaverei, namentlich bei seinen jetzigen Umgebungen, aber er hielt es ebenso auf der andern Seite für das Wesentlichste einer geselligen Kultur, dem verletzenden Widerspruche, der beleidigenden Absonderung, dem Rechtbehalten soviel als möglich aus dem Wege zu gehen. »Nur der hat recht,« pflegte er oft zu sagen, »der nicht recht haben will.«

Diese Nachgiebigkeit ward nun auch sehr gefördert durch die überschwellende Stimmung einer neuen Liebe. »Was ist wahr, was ist notwendig,« rief er lachend, »in den verworrenen geschichtlichen Zuständen dieser Welt? Ich weiß es nicht, denn es wechselt wie die Witterung. Nur die Liebe ist ewig, und die Versöhnlichkeit ist darum immer die sicherste Tugend.«

So ward es Stanislaus nicht schwer, den desertierenden Deutschen wieder zu gewinnen. Er versprach, wieder einzutreten, sobald es ans Fechten ginge. Und so war alles im trefflichsten Gleise, und ein wunderlicher Humor ergoß sich über Gedanken und Worte Valerius'. Keine einzige seiner wichtigen Gesellschaftsfragen war gelöst, aber die Harmonie nach außen war hergestellt, sein Herz auf das Süßeste beschäftigt. Und bei solcher Gelegenheit, wo wir eigentlich im tiefsten Innern hören: es ist keineswegs alles in Ordnung, wo wir aber halb und halb die Hoffnung aufgegeben haben, die widerstrebenden Massen zu bewältigen, und wo uns dieser oder jener Reiz für den Mangel einer völligen Harmonie entschädigt, da kommt uns der Humor, ein beschwichtigender Tröster. Tief in den Winkeln seines Lächelns ruht zwar ein ewiger Schmerz, aber dieser hebt nur das Lächeln um so mehr, wir fühlen die Notwendigkeit, uns selbst zu erhalten, und jenen Schmerz unberührt zu lassen. In dem Lächeln liegt auch ein so heimatlicher Zug, ein Erinnern an die Kindheit, an die Tage, wo wir noch völlig unschuldig waren, eine Stimme sagt uns: Dies Lächeln ist echt, stammt aus dem Ursprünglichen deiner Natur, aber der Schmerz[167] ist erst gekommen mit der erworbenen Bildung, folge deiner Natur und lächle.

Daher kann es auch nur Humor geben, wenn die Bildungszustände in Gärung und Wechsel geraten sind und sich neu gestalten wollen. In sogenannten klassischen Perioden, wo die eben kursierende Aufgabe der Zeit gelöst, wo alles fertig und bestimmt ist, was man Tugend, Gesetz, Schönheit nennt, da gibt es keinen Humor. Die Juden, Griechen und Römer mit ihrer fertigen Welt kannten ihn nicht.

Der alte Graf versäumte in seiner guten Stimmung nicht, die humoristische Laune des Deutschen durch artige, geistreiche Bemerkungen zu unterstützen, Stanislaus lächelte dazu, obwohl man leicht bemerken konnte, daß ihm das eigentliche Verständnis dieser Stimmung abging. Alle einseitigen Völker wie die Polen, besitzen keinen Humor, dessen Existenz die größte innere Mannigfaltigkeit bedingt. Dieser Mangel erschwert dem Deutschen das behagliche Zusammenleben mit solchen Nationen, zu denen auch die Franzosen gehören. Schnelle, kurze Handlungen, welche diese Völker bezeichnen, haben nichts zu schaffen mit der breiten Basis des Humors und seiner alles umfassenden Natur. Auch Konstantie gehörte eigentlich nicht in diesen Bereich, ihr entschlossener Geist war nicht daran gewöhnt, nach allen möglichen Richtungen zu blicken, aber die Liebe lehrt alles. Wenn sie Valerius in dieser heitern, beweglichen Laune sah, da fühlte sie sich überaus glücklich und gehoben, sie erkannte darin die frische Einwirkung ihres Liebesverhältnisses, das deutsche Naturell und die feinen Auffassungsorgane der Neigung erleichterten ihr das Verständnis dieser ungewöhnlichen Sprünge des Geistes und Herzens, und so bildete sich bald ein Zirkel der ergötzlichsten Unterhaltung. Hedwig schwamm in ihrer jugendlichen Heiterkeit mit darin herum und schickte sich auf das Beste zu dieser in Polen so fremdartigen Konversation, denn die Frauen verstehen alles schnell, wo[168] das Herz seine Töne beisteuert, und so hatte sich bald ein bestimmter Kreis gebildet im Salon, welcher scherzhaft »der deutsche Klub« genannt wurde.

Valerius war auch am Tage öfters im Hause des alten Grafen, und unter dem steten Wünschen, den weißen Schal bald zu erblicken, unter Scherzen und Lachen verstrich ihm die Zeit. Sehnsüchtig blickte er wohl täglich nach der Tür, durch welche die Fürstin erscheinen sollte, sie kam, aber das weiße Freudenzeichen fehlte immer. Einige Male flüsterte sie ihm zu, der alte Herr sei nicht ohne Argwohn, so freundlich er aussehe, sie glaubte sich streng beobachtet.

So standen die Sachen, als Valerius am Abende des 30. März in den Salon trat. Es waren viele Militärs zugegen, und es schien eine ungewöhnliche Bewegung zu herrschen. Sie äußerte sich indessen nicht laut und stürmisch wie zumeist, sondern dadurch, daß sich die Gesellschaft in mehrere Gruppen gespalten hatte, in welchen einzelne Redner mit halber Stimme lebhaft, und wie es schien, auf Überzeugung ausgehend, das Wort führten. Namentlich zeichnete sich ein junger Offizier von höherem Range aus, er fand die meisten Zuhörer und schien am wenigsten durch Zwischenreden gestört zu werden. Er hatte ein blühendes, lebhaftes Gesicht, große forschende Augen und eine befremdende Wehmut oder Schwärmerei schien manchmal aus den Zügen aufzublicken. Das ganze sprechende Antlitz war aber trotzdem bedeckt mit Spitzen und Funken des nationalen Scharfsinns, die bei einem Krieger auf schlaue Pläne und Berechnungen deuten. Valerius erinnerte sich, daß ihn Stanislaus mehrmals auf die strategischen Talente dieses Mannes aufmerksam gemacht hatte, und obwohl er die Worte nicht hörte, so glaubte er doch aus alledem schließen zu können, der junge Offizier entwickle irgend einen Feldzugsplan. Sein Name war ihm entfallen, und er wollte eben näher hinzu gehen, um sich zu unterrichten, als Konstantie eintrat. Auf ihren[169] Schultern lag der weiße Schal – sie war schön wie eine Göttin, und alles andere verschwand für Valerius.

Die Gruppen zerstreuten sich, das Treiben löste sich in den gewöhnlichen Salonverkehr auf. Valerius bemerkte es kaum, daß sich Stanislaus mit dem jungen interessanten Offizier entfernte, Konstantiens sehnsüchtige Augen beschäftigten ihn allein; sie sprach wenig mit ihm, aber es lag in den wenig Worten, eine so süße Schwere, eine so weiche Beklommenheit, das schöne Rot ihres Gesichts strahlte so glückverheißend, daß er es kaum inne ward, wie die Stunden verschwanden. Ein leichter Schlag auf die Achsel weckte ihn. Stanislaus stand hinter seinem Stuhle und winkte ihm nach den stilleren Zimmern. Als sie weit genug entfernt waren, daß niemand sie hören konnte, stand er still, drückte ihm heftig die Hand und sprach: »Der Augenblick ist da, wir können fechten.«

Valerius erschrak. – »Wann?«

»Noch heute nacht.«

»O!«

»Das klingt ja wie Betrübnis, irr' ich mich wieder in Ihnen?«

»Nein, nein,« erwiderte Valerius, der sich schnell gefaßt hatte, »um welche Zeit steigen wir zu Pferde?«

»Zwölf ist die späteste Stunde; Sie haben Zeit, bis dahin Ihre Vorkehrungen zu treffen. Hören Sie, wie es zusammenhängt. Sie haben vorhin Prondzinski gesehen.«

»Wen? Ah, ja, das war also Prondzinski!«

»Ich habe Sie ja schon öfters aufmerksam lauf ihn gemacht; er ist die rechte Hand Skrzyneckis, ein unerschöpfliches Kriegstalent, wie ich glaube. Er sagte mir heute abend, es sei etwas im Werke, wenn ich Lust hätte, möchte ich ihn begleiten. Wir gingen. Er hat eine unerschöpfliche Kriegsphantasie und entwickelte mir soviel Möglichkeiten, die Russen zu schlagen, daß ich, ganz bedeckt und verwirrt, kaum bemerkte,[170] wohin wir gegangen seien. Es war ein glänzender Speisesaal, in dem wir uns befanden. Ich blieb ein wenig zurück, Prondzinski trat hinter Skrzyneckis Stuhl, und sie sprachen leise, aber eifrig und lebhaft miteinander. Fröhlich kam er zurück und führte mich wieder von dannen. ›Endlich ist er entschlossen, um zwölf Uhr kündigt er der Gesellschaft an, daß es gegen den Feind geht, eine Minute darauf ist er im Sattel.‹ – Nun flogen wir, den Befehl zum Abmarsch zu verbreiten, die Truppen waren schon konsigniert, die Weichselbrücke ward mit Stroh beschüttet, wenn Sie hinausgehen wollen, so können Sie den gespenstischen Zug der ganzen Armee betrachten.«

»Wohin?«

»Um zwölf Uhr spricht Skrzynecki das Wort aus, eher erfährt's niemand, und die Vorsicht ist gut, in der Stadt ist's unsicherer als im Lager.«

»Wo find' ich Sie um zwölf?«

»Zu Pferde an der Weichselbrücke.«

Sie gingen zurück in den Salon. Valerius hätte um alles in der Welt gern ein Wort zu Konstantien gesprochen, aber sie war umlagert von allen Seiten; er stand wie auf Kohlen. Er winkte ihr mit den Augen, sie schien ihn zu verstehen, aber der alte Graf schien es ebensogut bemerkt zu haben. Die Situation war peinlich.

Es schlug zehn. Da brachen alle Militärs auf, in der Verwirrung konnte er sich der Fürstin nähern und ihr zuflüstern: »In einer halben Stunde bin ich da.« »Das ist zu zeitig,« erwiderte sie schnell, »nicht wahr, lieber Onkel, der Graf Kicki ist den ganzen Abend nicht hier gewesen, Herr von Valerius will es besser wissen.«

Der alte Herr war nämlich sachte an das Pärchen herangetreten, und hatte vielleicht schon gehorcht; Konstantie suchte ihn zu täuschen und sprach weiter in ihn hinein; Valerius konnte nicht länger warten.[171]

Magyac kam ihm zu Hause schon gerüstet entgegen, er hatte schmerzlich auf den Herrn gewartet, da er von einem Aufbruche der Truppen unterrichtet war. Jetzt jubelte er laut, als ihm dieser entgegenrief: »Thaddäus, die Pferde satteln, meine Uniform!«

»Ich hab's gewußt,« schrie er lustig, »daß Sie so sprechen würden, ich hab' meinen Herrn gekannt, Sie mochten sagen, was Sie wollten. Alles fertig, die Pferde schon gezäumt, hier, hier Uniform, Degen, Kaskett, Pistolen sind geladen, fest geladen, Herr, Patrontasche voll, Herr, draußen auf der Weichselbrücke, das ist ein Leben, seit zwei Stunden dauert der Zug schon, unsere Truppen, Herr, unsere Truppen, ein Heer, ein echtes Heer – wohin geht's, Herr?« setzte er leiser hinzu.

»Auf der Brücke werd' ich dir's sagen, um dreiviertel zwölf, Schlag dreiviertel zwölf reiten wir.« – Er bezeichnete ihm einen Platz wo er ihn mit den Pferden erwarten sollte. – »Halt da, den Schlüssel aus meinem Rock.«

»Herr, daß Sie die Uhr nicht verhören.« Valerius flog davon, lachend über Magyacs Äußerung, der mit der Schlauheit seiner Nation den Zusammenhang zwischen dem Schlüssel und der Eile erraten zu haben schien.

Es war halb elf, als Valerius an der Tür des Gartenhauses stand. Sie hatte gesagt, es sei zu zeitig, er konnte auf einen ihrer Domestiken stoßen, die sie vielleicht noch nicht hatte entfernen können – aber es blieb ihm nur eine starke Stunde, entschlossen öffnete er die Tür, und tappte durch den Gang, die Treppe hinauf. Hier horchte er, wirklich wurde drinnen eben eine Tür zugeschlagen, dann ward es still – er öffnete. Konstantie stand mitten im Zimmer und lauschte nach den vordern Gemächern. Sie winkte ihm mit der Hand, stehen zu bleiben, und schalt mit leiser Stimme: »Unbesonnener! Ich habe mich nicht können umkleiden lassen, meine Kammerfrau hat noch die nächste Tür in der Hand – endlich, jetzt ist sie fort.«[172]

Valerius flog auf sie zu und drückte sie herzend und küssend mit einem Arme an sich, mit dem andern hielt er den Säbel, um kein Geräusch zu machen. Der weiße Schal glitt unter seiner Hand von den Schultern, und während Konstantie seine Liebkosungen erwiderte, schob er ihn unter den Mantel.

»Was machst du da?« Mit den Worten schlug sie ihm den Mantel auseinander. »In Uniform? Himmel, was soll das bedeuten? Sprich schnell.«

Valerius legte seinen Säbel ab und lachte. Er hatte ihr nichts sagen wollen, aber sie bat so gut, so dringend: »Sei nicht falsch, Valerius, erzähle!«

Er erzählte. Konstantie regte sich nicht, ihre Augen aber verließen die seinen nicht. »Also nur eine Stunde noch!« sagte sie endlich mit schwacher Stimme, »und ich sehe dich vielleicht nie wieder.« Ein Schauer überflog den ganzen Körper, und sie setzte noch leiser hinzu: »Es wäre entsetzlich! Ich liebe das Leben über alles; aber ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll – bleib; was gehen dich die Leute an, bleib', Geliebter!« Dabei rollten große Tränen über ihre Wangen.

»Konstantie!« erwiderte Valerius, »wie bist du reizend in dieser Schwäche, laß mich die Tränen hinwegküssen von diesem Gesichte, das nicht für Tränen geschaffen ist, aber wenn sie getrocknet sind, wirst du nicht mehr verlangen, daß ich bleiben soll. Was wolltest du mit einem Manne ohne Mut, der sein Versprechen bräche, den die Umgebungen verachten?«

»Ach, Mann, es ist ein größerer Mut, seine Umgebungen und ihr Geschwätz zu ignorieren, es ist eine Schwäche, den hergebrachten Formen nachzulaufen und das Glück zu verlassen, es ist eine eingebildete Phantasterei, eine veraltete Ritterkoketterie mit eurem Mut und eurer sogenannten Ehre, und ich hätte dich stärker geglaubt. Rinald[173] war der gewaltigste Ritter vor Jerusalem, und der schwärmerisch-romantische Tasso läßt gerade ihn mit Armida Jerusalem und Schlacht vergessen.«

»Aber Rinald war verzaubert.«

»Und du bist es leider nicht – ja, ja, das ist der Unterschied.« Mit diesen Worten nahm sie ein Umschlagetuch vom Stuhle, hüllte sich darein und setzte sich in einen Winkel des Zimmers.

»Du tust mir unrecht, Konstantie, hu wirst dich besinnen; tu' es schnell, die Minuten sind uns gezählt. Die Ehre mag ein zufälliges Übereinkommen sein, aber unsere ganze Gesellschaft ist ein solches; wenn wir in ihr bestehen wollen, müssen wir uns in die wesentlichsten Pflichten gegen dieselbe fügen. Du weißt, ich bin nicht der Mann ängstlicher Formen, ich hätte wohl auch die Kraft, diesem gemachten Phantom der Ehre entgegenzutreten; aber was bliebe in einer Zeit übrig, wo nur dies lose Band noch die Verhältnisse zusammenhält, wo alle sonstigen höheren Elemente der Gesellschaft längst entwichen sind, und Konstantie, weißt du auch, wer mich zuerst anklagen würde, weißt du's? Du schweigst; ich will dir's sagen: die Fürstin Konstantie, die stolze Konstantie. Besinne dich, ach die schönen Augenblicke, in denen wir uns lieben könnten, verstreichen unter spitzfindigen Worten.«

Es entstand eine Pause. Valerius ging einigemal im Zimmer auf und ab und blieb endlich vor ihr stehen. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken, das Auge niedergeschlagen, sie regte sich nicht. Valerius legte seine Hand auf ihr Haupt und betrachtete sie schweigend. Bei der Berührung bebte sie zusammen, schlug die Augen auf, streckte ihm die Hand entgegen und sprach schnell: »Es ist vorüber, du hast recht wie immer, komm', vergib!«

Und dabei sprang sie auf und zog ihn ans Herz. Das alte Spiel der Liebkosungen begann, das einzige Spiel, im welchem beide Parteien gewinnen. Sie glaubten sich einer[174] um so größeren Heftigkeit hingeben zu müssen, je unsicherer die Aussicht war, daß ähnliche Freuden bald wiederkehren dürften. Die süßesten Worte und Schmeichelreden schmiegten sich in das feste Umarmen, das brennende Küssen; der Mantel fiel von seinen Schultern, das Tuch von den ihren, und sie standen ineinander verschlungen wie zwei Kämpfer, welche die Kräfte ihrer Liebe messen wollen.

Hastig sprang er auf einmal zurück und riß die Uhr aus der Tasche. »Noch zehn Minuten, Konstantie, sind unser, und dann« – hier überwältigte ihn das Ursprüngliche seines Charakters, das Träumen der Zukunft, das Verzagen am Glück – »ach Konstantie,« sagte er mutlos, »wird unsere Freude wiederkehren?«

Konstantie, welche die Hände auf die Augen gedrückt hielt, gleich als wollte sie die schöne Welt des Augenblicks, welche in ihrem bewegten Herzen rollte, keinen Moment entfliehen lassen, sagte mit weicher Stimme: »Komm, komm zu mir, was kümmert uns die Zukunft, da der Augenblick so schön ist, komm, laß mich dein Auge küssen.« – »So, mein Herz, bist du nicht auch so glücklich, kannst du jetzt an etwas anderes denken?«

Das ist der Vorteil leidenschaftlicher Wesen: der Genuß der Gegenwart wird ihnen nicht durch den leisesten Gedanken an das, was kommen könnte, getrübt, keine Zukunft kümmert sie, auch wenn sie schon an die Tür klopft.

Aber Valerius, den jetzt schon der Trennungsgedanke und das, was hinter dieser Nacht lag, quälte, entbehrte dieses Vorteils, und er hörte denn auch zuerst Stimmen und Geräusch im Garten. Konstantie wollte nicht daran glauben, aber er nötigte sie, aufzuhorchen.

Das Geräusch war unter den Fenstern ihres Zimmers, die, an der Rückseite des Hauses, nach dem Garten führten. Konstantie löschte die Lampe aus und öffnete leise das Fenster. »Seht, nach dem Gartenhause« – es war die Stimme des[175] alten Grafen – »ob er vielleicht dort entkommen kann,« eben schlug's vom nächsten Turme dreiviertel auf zwölf.

»Ich muß fort, Konstantie!« – »Um Gottes willen nicht in diesem Augenblicke.«

Beide schwiegen eine Zeitlang und horchten. Man hörte nichts mehr in der Nähe, aber hinten am Gartenhause rief hie und da ein Bedienter dem andern zu. Konstantie glaubte wahrzunehmen, daß sie zurückkämen, und die Jalousien des bedeckten Ganges untersuchten. Valerius gürtete sich den Degen um, suchte seinen Mantel im Dunkeln, und stand nun reisefertig wie auf Kohlen.

»Öffne mir das andere Zimmer,« flüsterte er endlich, »das Stockwerk ist niedrig, ich werde auf die Straße hinunterspringen.«

Konstantie schwieg noch eine Weile; dann ermannte sie sich plötzlich und ging mit raschen Schritten nach ihrem Umschlagetuche. »Laß das dumme Volk,« sagte sie dann und trat zu Valerius, »sie mögen sehen und erfahren, was sie wollen, es ist kein bloßes Liebesabenteuer zwischen uns; einen Abschiedskuß, und noch einen, und den letzten; nun komm, ich bring' dich selbst hinunter, mag uns begegnen, wer da will.«

»Nicht doch, Konstantie.«

»Doch, widersprich mir nicht, es ist umsonst, mein Entschluß ist fest; es schlägt den Augenblick zwölf.«

Sie gingen. »Leise – leise, drück die Säbelscheide an dich,« flüsterte Konstantie, als sie im bedeckten Gange wirklich die Bedienten an den Jalousien rütteln und sprechen hörten.

»Alles ist fest,« sagte der eine, »die Tür dort ist auch verschlossen, er muß in irgend einem Winkel stecken – übrigens, Johann, wenn ich meine Meinung sagen soll, ein Spitzbube war's gewiß nicht, 's war nur ein Augenblick, daß ich ihn sehen konnte, aber so sieht ein Spitzbube nicht aus, 's war ganz gewiß ein Edelmann.«

»Aber was sollte denn der –« sprach der Angeredete.[176]

»Pst, Johann,« unterbrach ihn der erste. Die Stimmen entfernten sich. Valerius und Konstantie kamen unangefochten ins Gartenhaus, und fanden auch da nichts Verdächtiges. Er öffnete die Tür nach der Straße, sie umarmte ihn noch einmal mit aller Leidenschaft, welche die ängstliche Situation um nichts vermindert zu haben schien. »Leb wohl, wohl, mein Herz, mein alles, leb wohl.«

Er flog durch die Straßen, und schrie schon von weitem »Magyac – Magyac!«

Dieser kam mit den Pferden herbei. »Herr, da schlägt es zwölf, wir werden zu spät kommen.«

Beide waren mit einem Sprunge im Sattel, und in gestrecktem Galopp ging es nach der Weichselbrücke hinab durch die finstern, schweigsamen Gassen.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 165-177.
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