23.

[158] An demselben Abende, wo in einem stillen Zimmer von des alten Grafen Palais die Liebe zweier Leute so lebhaft[158] sich aussprach, war ganz Warschau in einer ungewöhnlichen Bewegung. Auf allen Straßen sah man Gruppen von eifrig sprechenden Leuten, die Wagen rasselten schneller und häufiger, als man es sonst gewohnt war, Soldaten von allen Gattungen, Bauern, junge Leute in Zivilkleidern strömten hin und her, einer fragte den andern – kurz, der unaufmerksamste Beobachter mußte inne werden, die ganze Bevölkerung werde von einem neuen großen Interesse bewegt.

Zwei junge Männer in weite Karbonarimäntel gehüllt drängten sich durch die Menge und gingen auf eine Konditorei zu, deren bunt erhellte Fenster weit herum leuchteten in der Dunkelheit. Der eine von ihnen schien sich wenig um die Aufregung des Volkes zu kümmern; er war etwas größer als sein Begleiter, die Züge seines Antlitzes, das man jetzt dicht an der erleuchteten Ladentüre sehen konnte, waren streng und ernst, ja sie hätten hart genannt werden können, wenn sie nicht durch einen schwärmerischen Zug von Melancholie gemildert worden wären. Er behauptete eine gewisse Superiorität über den anderen und schritt ohne weiteres zuerst in den Laden. Dieser zweite hatte auf der Straße mit vieler Aufmerksamkeit hierhin und dorthin nach den Äußerungen der Menge gehorcht, und dabei fortwährend leise, schnell und angelegentlich zu seinem Begleiter gesprochen, obgleich der letztere gar keine Notiz davon zu nehmen schien.

Alle Zimmer der Konditorei waren angefüllt, und die beiden Männer fanden mit Mühe in dem Winkel eines entfernten Gemachs zwei unbesetzte Plätze.

Der Besitzer des Ladens hieß Lessel und fuhr geschäftig unter der Menge hin und her, dem Anschein nach eifrig beschäftigt, das Verlangen seiner Gäste zufrieden zu stellen. Indessen konnte es einem schärferen Beobachter nicht entgehen, daß der vertrocknete kleine Mann mit den beweglichen Augen hie und da länger stehen blieb, als nötig war, und mit großer Aufmerksamkeit auf die Äußerungen der Anwesenden horchte.[159]

Der kleinere von den beiden im Winkel Sitzenden machte eben mit einem verschmitzten Lächeln seinen schweigsamen Begleiter darauf aufmerksam, als Herr Lessel an ihren Tisch trat. – »Glühwein, meine Herren?« sprach er mit lauter Stimme, – leise aber setzte er hinzu, »der Alte fällt durch, alles geht nach Wunsch,« und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er wieder unter die Menge, und man hörte nur seine durchdringende Stimme: »Glühwein, zweimal!«

Das verschmitzte Lächeln des zweiten Mannes im Karbonari blieb ungestört auf dem lebenslustigen Gesichte, und während nur der Ausdruck einer unschönen Schlauheit etwas stärker auf seinen Zügen hervortrat, sagte er zu seinem Nachbar: »Habe ich recht gehabt, Sir William?«

Dieser erwiderte indessen nichts und erhob nur das tiefliegende blaue Auge auf die Masse der Gäste, unter welcher eben die lebhafteste Bewegung entstanden war. »Skrzynecki – Skrzynecki – also doch Skrzynecki,« dieser Ausruf flog von Mund zu Mund, alles drängte sich nach den anderen Zimmern, sind die beiden Männer sahen sich plötzlich allein.

Es war nämlich an jenem Abende die Wahl des neuen Generalissimus der Armee entschieden worden. In der Schlacht bei Grochow hatte man erkannt, wie nötig es sei, ein militärisches Talent an die Spitze zu stellen. Der wackere Fürst Radzivil, welcher damals auf allgemeines Drängen den Oberbefehl angenommen hatte, um den Eifersüchteleien der übrigen Befehlshaber keine Veranlassung zum Ausbruch zu geben, konnte und wollte dies Amt nicht länger behalten. Als Nichtmilitär und allgemein verehrter Patriot konnte seine Wahl keinen der übrigen Kandidaten beleidigen, Chlopicki konnte unter seinem Namen die Armee leiten, deshalb hatte er damals auf allgemeines Drängen einen Posten angenommen, dem er nicht gewachsen war. Chlopicki war aber gefallen und lag jetzt an seinen Wunden in Krakau danieder, man[160] hatte auf dem Schlachtfelde von Praga und Grochow gesehen, wie mißlich es sei, wenn das Schicksal des Tages in den Händen eines Mannes ruhe, der, wie Chlopicki, nicht offiziell an der Spitze stand; die Generale und Obersten hatten sich geweigert, seinen Anordnungen zu gehorchen, und dies Mißverhältnis hatte das Schicksal der Nation aufs Spiel gesetzt. Die Notwendigkeit lag vor Augen, einen tüchtigen Militär an die Spitze zu stellen, und die neue Entscheidung hatte bisher alle Parteien in Bewegung gesetzt. Skrzynecki und Krukowiecki waren die beiden wichtigsten Kandidaten, zwischen denen man schwankte. Jener hatte vom Anfange des Krieges her unzweifelhafte Proben einer tüchtigen militärischen Geschicklichkeit gegeben, er war bekannt und geschätzt als ein milder, gemäßigter Mann, an seinem Patriotismus haftete kein Zweifel. Aber jene militärischen Proben eines untergeordneten Generals waren nicht hinreichend zum Beweise, ob er als Generalissimus an seinem Platze stünde, jene gemäßigten Gesinnungen hatten ihm kein Interesse bei der Volkspartei erweckt. Krukowiecki dagegen genoß bei dieser die ausgebreitetste Popularität, er galt für einen echten, unverfälschten Polen, er war einer von denen, welche in der schlichten Kutka einhergingen, er besuchte den patriotischen Klub, er verlangte durchgreifende, ganze Maßregeln, sein soldatisches Talent, seine Energie waren bekannt, er war ein alter General, während Skrzynecki erst im Revolutionskriege dazu avanciert wurde.

Es war aber auch gerade Krukowiecki, dessen Eifersucht man durch die Wahl Radzivils hatte beschwichtigen wollen, sein Ehrgeiz wurde über alles von der Adelspartei gefürchtet, und diese Furcht wurde selbst durch seine bekannte damalige Äußerung nicht entfernt. »Stellt uns einen Tambour an die Spitze, er wird uns zum Siege führen, denn wir werden ihm folgen.«

So standen die Sachen, als an jenem Abende Skrzynecki zum Generalissimus erwählt ward.[161]

Herr Lessel fand sich bald wieder ein bei seinen beiden vereinsamten Gästen, rieb sich vergnügt die Hände und sagte zu Williams Begleiter: »Nun, hab' ich recht gehabt, Herr von Wankenberg, hab' ich recht gehabt, die Diplomatie der hohen Herrschaften ist durchgedrungen, der alte Bärenbeißer ist wieder drum gekommen, und der sanfte, unschuldige, unbekannte Skrzynecki ist Generalissimus. O, ich kenne meine Herren vom Reichstage! Sie wollen die Armee nicht aus der Hand geben, Skrzynecki kann sich auf keine Partei stützen, er beruht auf ihnen allein – der patriotische Klub wird außer sich geraten, sie kommen aneinander, sie kommen aneinander, geben Sie acht, unsere Sache geht gut, geht schneller als wir dachten. – Sie täten am besten, gleich in den Klub zu gehen, und alles mögliche Holz ins Feuer zu werfen.«

Herr von Wankenberg hatte noch immer dasselbe Lächeln auf den Lippen und erwiderte dem lebhaften Konditor mit der ungestörten Ruhe eines besser Unterrichteten und eines Vornehmeren, der sich am Eifer eines Gleichgesinnten freut, ihn aber gern in die untergeordnete Stellung zurückgedrängt sieht: »Sie sind zu voreilig, zu sanguinisch, Herr Lessel, Sie könnten unsere Sache kompromittieren, ehe sie reif ist, Sie sind den jungen Leuten ohnedies schon verdächtig und sollten mehr als jeder andere auf der Hut sein.«

Lessel zog die Augenbrauen zusammen und kniff die schmalen Lippen ein, aber Herr von Wankenberg ließ sich nicht stören und fuhr fort: »Der Klub ist klüger, als viele denken, seine Hauptführer haben beschlossen, das sogenannte Wohl ihres Vaterlandes auf keine Weise bloßzustellen, solange der Feind zwei Meilen vor Warschau steht, alle Kraft vorderhand auf den Kampf zu verwenden, und erst später einen direkten Einfluß auf die Regierung, oder die Regierung selbst zu erzwingen.«

»Später, später,« fiel Lessel ein, »wenn's nur ein Später für sie geben wird.«[162]

»Gut, gut, oder möglich, wahrscheinlich,« fiel Wankenberg ein, »Skrzynecki ist ein unentschlossener Mann, er wird die Hitze verrauchen lassen, aber jetzt ist nichts, gar nichts zu machen, kompromittieren Sie uns nicht, Lessel, mit Ihrer Voreiligkeit; rüsten Sie zu morgen früh, oder besser noch für heute nacht den alten Levi, ich werde ihm Briefe geben über den Stand der Dinge; lassen Sie nicht wieder den alten Franzosen sein Geschwätz beilegen, er übertreibt alles, um seine Wichtigkeit beim Feldmarschall zu erhöhen – seien Sie unbesorgt, Lessel, ich will Ihrer Tätigkeit schon erwähnen, mein Mißvergnügen über Ihre Voreiligkeiten hat nichts mit meinen Mitteilungen zu schaffen – drüben im Winkel, hinter Ihnen hat sich ein Gast eingefunden, verlassen Sie uns, und schicken Sie uns bessern Glühwein.«

Lessel nahm die Gläser und schrie wieder wie vorher im Abgehen: »Glühwein, zweimal!«

Während dieses Gesprächs hatte William still dagesessen, und wenn er nicht zuweilen einen verächtlichen Blick auf die beiden Sprecher geworfen hätte, so würde man geglaubt haben, er höre gar nichts von ihrem Gespräche. Der schroffe Ausdruck seines Gesichts war immer härter geworden, er strich sich die langen, schlichten Haare, welche ungeordnet um seinen Kopf hingen, aus den Schläfen, und eine abschreckende Verachtung drückte sich auf seinen Lippen aus, als er dem Kellner das frisch gefüllte Glas abnahm und zu seinem Begleiter sprach:

»Sie müssen gestehen, Herr von Wankenberg, arme Adelige unseres Vaterlandes, und die alten vertriebenen Franzosen arbeiten der Revolution aufs beste in die Hände – sie haben sich fast das Privilegium des Spionierens erworben.«

Wankenberg lachte hell auf: »Sie sind ein Spaßvogel, aber ich bitte Sie, nicht so laut zu sprechen, der Mann da drüben liest vielleicht nicht so eifrig im ›Warschauer Kurier‹,[163] als es aussieht – die Diplomatie, lieber Sir William, hat mancherlei Branchen, und ich weiß ja, wie tief Sie selbst das revolutionäre Gesindel hassen.«

»Ich hasse sie, weil ich ihre Grundsätze hasse, aber ich bin kein Spion für Geld.«

»Um Gottes willen, sprechen Sie leiser, wenn Sie Ihre Tugend auskramen wollen, der Mensch da drüben sieht schon über das Journal hinweg. Apropos, Ihr alter Freund Valerius, der noch heute morgen kein Geld zu seiner Abreise hatte –«

»Ich weiß, ich weiß, Sie haben mir das heut morgen schon gesagt, und ich glaube, er ist jetzt damit versehen.«

»Lassen Sie mich doch ausreden, ich bin ihm vor einer Stunde mit der Fürstin Konstantie auf der Straße begegnet. Sie war zu Fuß und im eifrigsten Gespräch mit ihm, es kostete mich Mühe, den weit hinter ihr gehenden Bedienten zu entdecken – mit Ihren schönen Grundsätzen machen Sie alles ungeschickt, und bringen nicht einmal diesen Schwärmer aus der Stadt – mir ist er sicher, mir kommt er auch später zurecht; aber Ihnen ist er ja völlig im Wege. Ich habe mehr für Sie getan, als Sie wissen; ich habe ihn in den demokratischen Gesellschaften erblickt, und damit habe ich ihn aus den Zirkeln gedrängt, die er wohl aufgeben mußte, weil man ihm scheele Gesichter schnitt, ich habe« –

William, auf dessen Antlitz sich die heftigsten Empfindungen ausgeprägt hatten während dieser Erzählung, sprang in diesem Augenblicke auf und verließ schnell das Zimmer.

Dies schien aber seinen Begleiter wenig zu rühren; er nahm ein Taschenbuch aus dem Rocke und notierte sich etwas. Dieser Herr von Wankenberg hatte eins von jenen verwischten Gesichtern, denen man das Alter nicht recht ansieht. Er konnte ebensogut fünfundzwanzig wie fünfunddreißig Jahre zählen. Seine Harare waren dünn und eng am Kopfe liegend, ein fein zugeschnittenes Bärtchen hob das glatte Gesicht,[164] das für den ersten Anblick gesund und von lebhafter Farbe erschien. Wenn man genauer hinsah, so gab man ihm vielleicht das unangenehme Beiwort »schwammig.« Seine Hände waren sehr weiß und fein.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 158-165.
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