31.

[267] Skrzynecki war auf dem Wege nach Krakau; Kasimir und Valerius ritten durch die Barriere nach Wola, um sich in die Armee zu retten. Es war eine mondhelle Nacht, und sie konnten nur langsam vorwärts, weil ein ganzes Armeekorps vom Lager aus durch Warschau marschierte, um über die Brücke von Praga aufs jenseitige Weichselufer zu rücken und einen Streifzug zu unternehmen. Es war eine Heeresabteilung von mehreren zwanzigtausend Mann, welche unter Ramorino und Lubienski den Zugang von Praga säubern und der diesseitigen Armee, welche auf eine Quadratmeile eingeengt war, Lebensmittel verschaffen sollte.

Valerius war starr und öde und sah mit Verzweiflung auf die Stadt zurück, welche unter Nacht und Mondschein hinter ihm lag. Für all seine uneigennützige, enthusiastische Teilnahme an Befreiung der Nation, welche in dieser Stadt verkörpert war, mußte er jetzt wie ein Dieb in der Nacht entweichen und unter den Kugeln der Russen eine Freistatt suchen. Alle seine Anknüpfungen hinter jenen Mauern sahen[267] ihm trübselig nach: er wußte nicht einmal, ob Konstantie noch dort wohne, das Weib, das in einem so stürmischen Rausche an seiner Brust gelegen hatte; auch Joels Schicksal war ihm unbekannt; die liebliche Hedwig hatte er nur in jenem entsetzlichen Momente wiedergesehen, das ganze Leben grinste ihn an wie ein possenhaftes Trauerspiel. Dazu dieser erschreckende Leichtsinn des vorüberziehenden Heeres, Lärm und Jubel desselben in der warmen Sommernacht, »und sie ziehen vielleicht dahin,« sagte Kasimir, »und sehen dies vergötterte Warschau nicht wieder; Paskiewitsch weiß vortrefflich, wie es unter uns hergeht, er hat seine ganze Macht beisammen und ist ein entschlossener, tapferer Feldherr, der mit Energie das Äußerste daran setzt. – Gott schütze das arme Polen!«

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« riefen die Kriegskameraden, welche vorüberzogen und im Mondscheine Kasimir oder Valerius erkannten. Auch Stanislaus war unter den Marschierenden, aber er ritt ohne Gruß dicht an dem Deutschen vorbei.

Jener Expedition Ramorinos schloß sich überhaupt der Kern der aristokratischen Partei an, die sich in einem unsichern Verhältnisse zu Krukowiecki fühlte.

Dieser merkwürdige Mann war nun jetzt im ganzen Umfange des Wortes Diktator, obwohl er den Titel nicht hatte: das Generalissimat war dem 75jährigen Malachowski aufgenötigt worden, damit die Armee für alle Pläne verfügbar blieb; die Gouverneurschaft von Warschau hatte General Chrzanowski, ein Offizier, welcher den Patrioten höchst verdächtig war und schon lange von Unterhandlungen mit den Russen gesprochen hatte; vom Oberbefehl über die Nationalgarde war der hochgeachtete Anton Ostrowski entfernt; Krukowiecki ließ seine eigene Wohnung von einem Chasseurregimente bewachen. Die Demokraten nämlich gerieten jetzt in die Furcht, von ihm betrogen zu sein und organisierten eine[268] Verschwörung. Sie ward entdeckt – in diesen aufgelösten Zustand kamen nun die Parlamentärs von Paskiewitsch, welche Unterhandlungen eröffneten.

So stand es, als Valerius am Vormittage des 5. Septembers den General Prondzynski an sich vorübersprengen und über die polnischen Vorposten hinauseilen sah; vor ihm ritt ein Parlamentär, neben ihm Peter Wysocki, jetzt Oberstleutnant, welcher ein Hauptführer der Fähndriche beim Ausbruch der Revolution gewesen war. Als sie nach mehreren Stunden erst zurückkehrten, erzählte Wysocki zu großer Bestürzung, daß Prondzynski eine Stunde lang geheim mit dem russischen Generale Dannenberg in Unterredung geblieben und ganz verwandelt, höchst bestürzt zurückgenommen sei. So war man denn auch über diesen wichtigsten Heerführer in Unruhe versetzt, wenn auch nicht an einen Verrat von seiner Seite geglaubt wurde; vielleicht waren ihm im Eifer Andeutungen entschlüpft über die ferne Abwesenheit des Ramorinoschen Korps, über die Regierung, kurz, den Morgen darauf, als Valerius sich eben gegen fünf Uhr von seiner harten Lagerstatt am Erdboden erhob, donnerte ein Kanonenschuß vom russischen Heere herüber, es folgte ein zweiter, und als ob Luft und Erde in Donner aufgelöst würden, ein Schlag von hundert Kanonen, die wie ein Hagelwetter links und rechts neben ihm in die polnischen Verschanzungen einschlugen, schwarze Kolonnen, die Blitz auf Blitz vor sich hertrugen, kamen über die Ebene daher auf die Position von Wola los, welche die stärkste der Warschauer Verschanzungen war.

Paskiewitsch begann den Sturm; in dem Augenblicke war der Oberbefehlshaber Malachowski gar nicht zugegen, General Bem, welcher sämtliche Artillerie befehligte, stand ruhig auf dem Observatorium in Warschau und hielt den Angriff auf das feste Wola für einen Scheinangriff, viele Werke waren von den Soldaten entblößt, weil die 20000[269] Mann von Ramorino fehlten, die zum Teil just nach Wola gehörten, nur Uminski, unter welchem auch Valerius jetzt focht, war auf seinem Posten und des Äußersten gewärtig. Der größte Teil von der Armee, ganz Warschau dachte nicht daran, daß in den nächsten achtundvierzig Stunden eine Totalentscheidung des ganzen Krieges vor sich gehe, just dies Verhüllte, Unerkannte des Äußersten war ein so überaus tragisches Moment.

Zwei Stunden Zeit kostet's die Russen, zwei kleine, vereinzelte Vorwerke zu nehmen, aber sie bieten, von der kräftigsten Energie ihres Feldherrn Paskiewitsch gedrängt, einen unablässigen massenhaften Angriff der verzweiflungsvollen Wehr von seiten der Polen; nach sieben Uhr stürzen sie zum Sturm auf Wola, nach einem entsetzlichen Gemetzel ist es gegen neun Uhr genommen; Wysocki, der es mit verteidigt, in den Händen der Russen – es tritt eine Totenstille auf dem Felde ein, kein Schuß fällt mehr; Krukowiecki erscheint, um zu sehen, was vorgefallen sei.

Als nun die Russen zu weiterem und breiterem Angriffe vorrückten, fanden sie geordneten Widerstand von Bem und Uminski; nachmittags um drei Uhr beginnen die Polen selbst den Angriff, um Wola wieder zu erobern. Hier gab es nun eine Stunde lang das mörderischste Gefecht des ganzen Krieges; Paskiewitsch drängte mit konzentriertester Tapferkeit und Kraft alles auf Wola zusammen. Um vier Uhr mußten die Polen auf das nächste Hauptwerk Czysti zurückweichen und Wola aufgeben; um fünf Uhr schwieg erschöpft alles; die Russen befestigten Wola.

Dies war der erste Tag des Sturms. Warschau hatte in dem Halbkreise, welchen es diesseits der Weichsel nach der westlichen Ebene ausdehnt, drei Verteidigungslinien; dieser Tag hatte den festesten Teil der ersten Linie gekostet, der übrige Kreis derselben war noch von Polen besetzt, die zweite und dritte Linie unberührt; man hoffte jede Stunde auf Ramorinos Ankunft, man dachte nicht an ein Ende.[270]

Aber Krukowiecki dachte daran, Chrzanowski, der Gouverneur von Warschau, der alles zu verhaften befahl, was in der Stadt die Waffen erhebe, Prondzynski, der mutlos war.

Krukowiecki ließ in die Stadt hineinsagen, alles sei verloren, man möge ihn zu Unterhandlungen bevollmächtigen. Er erhält vorläufige Erlaubnis, man denkt, er wolle Zeit gewinnen; aber die Armee erhält keine Befehle für den nächsten Tag, noch beordert er Wagen, welche man vorschlägt, um dem Ramorinoschen Korps die Ankunft zu beschleunigen; gegen Mitternacht beruft er Prondzynski. Er soll neue Unterhandlungen anknüpfen und erhält von Krukowiecki die geheime Weisung, Rückkehr unter russische Herrschaft sei die Grundlage. Um drei Uhr des Morgens reitet Prondzynski nach Wola; Feldmarschall Paskiewitsch empfängt ihn barsch in Gegenwart des Großfürsten Michael und des General Toll, der Großfürst aber vermittelt, es soll bis neun Uhr Waffenstillstand sein, Präsident Krukowiecki solle selbst zur Unterhandlung nach Wola kommen.

Nach acht Uhr des Morgens am 7. September ritten also Krukowiecki und Prondzynski mit dem russischen Parlamentär, General Dannenberg, nach Wola; Paskiewitsch empfing sie, von einem glänzenden Generalstabe umgeben, und man ging ins kleine Wirtshaus von Wola, um zu unterhandeln.

Das wichtige Verhältnis wurde dadurch eingeleitet, daß der russische Feldmarschall den polnischen Präsidenten hart und rauh anging, wie den Vertreter einer bereits ganz verlornen Sache, und daß Krukowiecki sich nun ebenfalls zornig in die Brust warf, und aufzählte, was alles für Hilfsmittel den Polen noch zu Dienst wären. Der Großfürst Michael vermittelte hierbei ebenfalls; Paskiewitsch verlangte unbedingte Unterwerfung und Räumung von Warschau, Krukowiecki erklärte seinen Beitritt, fügte aber hinzu, daß die Zustimmung des Reichstags nötig sei, daß diese indessen erfolgen werde.[271] Bis sie verschafft sei, bis Nachmittag zwei Uhr, solle der Waffenstillstand ausgedehnt werden.

Zwischen den russischen Zurüstungen zu einem neuen Sturme ritten die beiden Polen zurück, und zwar einen andern Weg als sie gekommen waren. Dies rettete Krukowiecki das Leben: an dem Wege, den er des Morgens genommen hatte, harrte seiner der Tod, die Demokraten, welchen er jetzt ein Entsetzen geworden, lauerten ihm auf.

Warschau war unterdessen in der wunderlichsten Unruhe und Ungewißheit: niemand dachte an eine so nahe Endkatastrophe, und doch fühlte man sich unter dem peinigenden Drucke einer Gefahr drohenden Luft, man fragte sich: »Was ist?« »Was geschieht?« »Warum schweigen die Kanonen?« »Siegen wir?« »Warum ist der Präsident bei den Russen?«

Nur die höher Gestellten sahen den Abgrund, an welchen sie geführt waren, ohne doch auch genau zu wissen, wie tief er sei, ob ein Sprung retten könne; der Vizepräsident, welchem vor den unheimlichen Schritten Krukowieckis graute, legte seine Stelle nieder, ihm folgten die meisten Minister, dennoch fürchtete noch niemand das Entsetzlichste, was bereits neben ihnen stand.

Es ist vormittags zehn Uhr, der Reichstag versammelt sich, Krukowiecki und Prondzynski kommen an; wie soll die Forderung des russischen Feldmarschalls, welche die ganze jetzige Existenz vernichtet, den Deputierten vorgetragen werden? Prondzynski wird hineingeschickt, er soll als betrauter Offizier den rettungslosen Waffenzustand schildern.

Erhitzt, fieberisch bewegt von den Eindrücken, die ihn schleudern, tritt er ein und bittet um eine geheime Sitzung. Man schließt die Türen, räumt die Galerien, Prondzynski gibt eine hinreißende Schilderung, daß Warschau kaum noch eine Stunde zu halten sei, daß der Feldmarschall den Wiener Traktat, vollständige Amnestie, Preßfreiheit, Freiheit von russischer Besatzung biete – ein Teil des Reichstags ist[272] erschüttert, da erhebt sich der Landbote Worcell und ruft, man solle sich vertagen und niemals einen solchen Vertrag bestätigen, es erhebt sich der Landbote Jelowicki und erklärte, jene Darstellung sei lügnerisch übertrieben, General Bem habe versichert, die Stadt könne sich noch vierundzwanzig Stunden halten, unterdes sei Ramorino da, Paskiewitsch habe bereits soviel Munition verschossen, als Napoleon zu seinem ganzen Zuge bis Moskau mitgenommen, er müsse in kurzem erschöpft sein.

»Herren Landboten!« beginnt Prondzynski aufs neue – Bonaventura Niemojewski verbietet ihm das Wort und ermahnt die Versammlung, standhaft zu sein, sich nicht einschüchtern zu lassen.

Es ist ein Uhr. Prondzynski zieht einmal um das andere seine Uhr heraus und ruft: »Meine Herrn, entscheiden Sie sich, es sind nur noch wenig Minuten übrig, der Sturm beginnt von neuem, die Russen dringen in die Tore.«

»Lasset die Sturmglocken läuten,« ruft Anton Ostrowski, »alles mit Waffen hinaustreiben gegen den Feind!«

»Auf der Stelle,« stimmt Nakwaski bei, »und der Bischof mit dem heiligen Kreuz soll vorangehn.«

»Wählt Niemojewski zum Präsidenten!«

»Nein, fragt Krukowiecki!«

»Keine Volksbewaffnung, sie erwürgt auch uns.«

Da dröhnten die Fenster von dem Schlage, welchen zweihundert Kanonen donnerten, Paskiewitsch begann den neuen Sturm.

»Erwählt den Kaiser von Rußland zum König von Polen, wenn Polen ganz Polen bleibt,« rufen fünf bis sechs Stimmen, darunter Lelewels, Ostrowskis.

»Erwartet das Ärgste auf diesen Stühlen wie römische Senatoren,« ruft Szaniecki; »zwingt den entmutigten Prondzynski, der unser fähigster General ist, an die Spitze der Truppen zu eilen!«[273]

»Ja, ja! so sei's!« ruft alles. Prondzynski entweicht.

»Öffnet die Türen,« ruft der Reichstagsmarschall, »verhandelt das Eigentumsrecht der Bauern! So soll uns der Feind finden.«

Aus dieser Zerfahrenheit, wo stolze Phrasen, einzelne Kühnheit, aber nirgends eine gefaßte, durchdringende Energie, nirgends überwältigende, herrschende Persönlichkeiten und Entschlüsse zu finden waren, aus dieser Versammlung, welche von den Ereignissen überflügelt war, ließ sich keine Rettung erwarten. Und diese Versammlung war das einzig noch geachtete mächtige Institut der ganzen Revolution. Prondzynski mochte übertreiben, aber er tat es sicher nicht so lügnerisch, als man ihm vorwirft, Paskiewitsch hatte wirklich große Wahrscheinlichkeit des Gelingens für sich, da die Dinge einmal so weit getrieben waren, und er eine unumschränkte Entschlossenheit für sich hatte.

Der Hauptsturm war diesen Tag auf den Mittelpunkt der polnischen Position, auf Czysti gerichtet, das mit zweihundert Kanonen verheerend angegriffen wurde. Auf der Uminskischen Linie, wo ebenfalls stürmisch vorgedrungen ward, gelang der russische Angriff nicht, sondern ward zurückgeworfen, aber Czysti wurde bald so weit demontiert, daß es sturmreif war; Paskiewitsch, der mitten im Feuer hielt und seine Truppen unablässig vordrängte, mußte zwar persönlich zurück, da eine Kugel seinen Kopf gestreift und verwundet, General Toll indessen übernahm das Kommando, und war eben im Begriff, den Sturm zu beginnen. Da kam Prondzynski mitten durch das beiderseitige Feuer gesprengt, und brachte die Nachricht, Krukowiecki sei vom Reichstage autorisiert, zu unterhandeln.

General Berg wurde mit ihm zurückgesendet; dieser verlangt schriftliche Autorisation vom Reichstage, Krukowiecki hat eine solche nicht und schickt dem Reichstage seine Entlassung. Sie wird angenommen; der Sturm auf Czysti[274] beginnt, Prondzynski läßt sich noch einmal von Krukowiecki in den Reichstag schicken, Niemojewski und der Marschall erheben sich gegen ihn, der Lärm beginnt von neuem, er erhält aber doch die schriftliche Erlaubnis, mit Rücksicht auf den Geist der früheren Gesetze in Unterhandlung zu treten. Rasch läßt nun Krukowiecki seine Abdankung wieder vom Tische nehmen, und sendet abends um sechs den immer reitenden Prondzynski nochmals ins russische Lager mit jener Bevollmächtigung und mit einem eignen Unterwerfungsbriefe an den Kaiser von Rußland.

Unterdessen ist Czysti genommen, und die Russen dringen durch diese eine Lücke in die Vorstädte, die Uminskischen Linien, welche noch unversehrt sind, in der Flanke und im Rücken lassend. Von hier aus greifen nun die Polen an, und es entsteht ein neues entsetzliches Gemetzel, die Nacht bricht ein, der Tod mäht wüst, da fehlen plötzlich überall die polnischen Truppen, wie sie von Malachowski und Uminski beordert waren; auf Krukowieckis Befehl sind sie in die Stadt und bis nach Praga hinübergezogen worden; Chrzanowski läßt niemand über die Brücke von Praga flüchten, es ist offenbar darauf abgesehen, Krukowieckis Unterwerfung an die Russen zu bestätigen.

Es herrscht die trostloseste Verwirrung, man rennt, man klagt, man schimpft, Truppen ziehen dazwischen; aus den Vorstädten herein knattert das Gewehrfeuer, braust das Kampfgetümmel – da bringt der Marschall Ostrowski noch einen kleinen Teil der Landboten im Palaste zusammen, Krukowiecki wird von ihnen abgesetzt. Die beiden Ostrowski unterzeichnen es und tragen es selbst zu ihm hin, viele Landboten folgen.

»Was wollen Sie?« schreit er und gerät in schäumende Wut, als ihm die Absetzung mitgeteilt wird – »sagt dem Großfürsten, daß er jetzt die Stadt beschieße, ich nehme die Entlassung nicht an, holla, Ordonnanz, die Gitter vom[275] Reichstagspalaste sollen geschlossen werden, ich will sehen, ob der Reichstag meinen Vertrag ratifizieren wird.«

Aber dies war die letzte Wut, er wartete selbst die Rückkehr Prondzynskis nicht ab, ließ alles im Stich und entwich über die Weichselbrücke. Die Verwirrung war nun noch größer, als der russische Parlamentär ankam und nur mit Krukowiecki unterhandeln wollte; es war mitten in der Nacht, und man mußte Reiter abschicken, um Krukowiecki zurückzuholen.

Am 8. September endlich, vormittags gegen 12 Uhr, ward eine militärische Kapitulation abgeschlossen, nach welcher Warschau und Praga übergeben wurden und die polnische Armee mit ihren Effekten nach Plock abmarschieren sollte.

Um diese Zeit ritt Valerius zum letzten Male durch die Straßen, am Hause des alten Grafen vorüber, wo er mit Konstantien glücklich gewesen war; sie stand neben dem alten Herrn am Fenster und sah in das vorübertosende militärische Getümmel, der Graf hatte seine sonstige stille Miene, und man konnte darauf lesen, daß er nicht flüchten, sondern sich mit den Russen abfinden werde. Sie mochten Valerius in dem Wirrwarr nicht erkennen, aber es war diesem ein schneidender Eindruck, der Fürstin Augen lächelnd auf diesem Untergange ruhen zu sehn. »Bist du ein unbedeutender Geist,« sprach sein Gewissen, »ist sie ein so überlegener? Oder gibt Geburt und Stellung auch in den wichtigsten Fragen soviel richtigere Einsicht? Sie hat es dir voraus gesagt, daß es so kommen würde, du hast es jetzt zum Schrecken gesehen, was eine Macht, die in strenges Verhältnis, in strenge Einheit gefügt ist, Überlegenes leistet! Wie gewaltig und ganz ist dir in den letzten Tagen der russische Feldherr entgegengetreten neben diesen aufgelösten Revolutionszuständen! Hätte er nicht auch siegen müssen, wenn nicht gerade von den Krukowiecki und Chrzanowski hantiert worden wäre? Täuscht man sich nicht eben weiter,[276] wenn dieser Untergang auf einzelne Persönlichkeiten und Zufälligkeiten geschoben wird? Was ist alle Frage und Untersuchung und Redensart im Staatsleben, was bleibt der ewige Mittelpunkt? Kraft und Macht – wo wohnt sie in dieser Verworrenheit?«

Der Zug war just vor des Grafen Hotel ins Stocken geraten, und Valerius mußte dort harren wie im Feuer einer Batterie. Auch Williams sonst so düstres Angesicht sah er am Fenster, und er glaubte die Schadenfreude darauf zu erkennen.

Als er endlich bis an die Brücke gekommen war, fand er ein Drängen und ein Gewirr, daß er sein Pferd auf die Seite schieben und sich ruhig im Warten bescheiden mußte. In den Heereszug drängte sich alles, was bisher in Warschau regiert oder mitgesprochen hatte, dieser und jener, der bis daher ein vornehmer Mann gewesen war, trug sein Bündel, sein Kästchen, was er eben zunächst retten wollte; die ganze letzte Zeit gewann hier das Ansehn eines Mummenschanzes, der plötzlich verboten wird, auf die enge Passage dieser Brücke war mit einem Male alles angewiesen, was bisher agiert hatte.

Sieh da, auf einem kleinen Vorsprunge stand Leopold und sah neugierig dem allen zu; Valerius rief ihn an; der Kleine bewies sich auch hier wie immer redselig und heiter. »Es ist ein historischer Moment, den muß ich mir betrachten, lieber Alter, sieh, sieh, wie das höchst interessant sich gestaltet hat, ich hab' mir's gedacht, Lieber, es mußte so kommen, eine gestorbene alte Geschichte bleibt eine Leiche, man mag tun, was man will.«

Es war ein wunderlich ironischer Eindruck auf Valerius, daß selbst dieser kleine, leichtsinnige Fant sich überlegen fühle, ihn gewissermaßen beschäme oder herausfordere. Er fragte ihn, ob er sich denn nicht retten wolle, daß er hier im dünnen Leibrock mit dem Zuschauen begnügt sei?

»Wovor mich retten? Ich bin ja kein Revolutionär,[277] bin ein neutrales Element; die zerstörende Leidenschaft der Menschen, du weißt es ja, ist nie meine Sache gewesen, nur die gefällige – schau, schau, kennst du ihn noch von neulich, da sah er anders aus.«

»Krukowiecki, Krukowiecki!« sprach hie und da ein Vorüberziehender, aber man hatte in der allgemeinen Notwendigkeit keinen Raum zu absonderlicher Beachtung, auch nicht zu zorniger. Er hatte seinen Mantel umgeschlagen und ritt unter dem polnischen Zuge, als wäre nichts Störendes zwischen ihm und seinen Patriotischen Landsleuten vorgefallen.

Valerius reichte Leopold die Hand, er wollte nun ebenfalls durchzukommen versuchen. »Leb wohl, Gott weiß, wo wir uns wiedersehen!«

»In Petersburg oder in Paris, Lieber.«

»In Petersburg! Hansnarr!«

»Höre, Valerius, bist du vielleicht stark bei Kasse?«

Das Gewühl drängte den Befragten weiter, ein Wagen, der rasch vorwärts strebte, nötigte ihn zu großer Aufmerksamkeit auf sein Pferd – »ach, Herr von Valerius!« hörte er eine sanfte Stimme rufen, sie kam aus dem Wagen, und war Hedwigs, welche mit der steinalten Großmutter und dem Vater darin saß. Die arme Kleine hatte ein verschwollen geweintes Antlitz und streckte ihm die Hand entgegen. »Bitte, begleiten Sie uns!« bat sie inständig. »Wie freue ich mich in allem Elend, daß ich Sie gerettet sehe.«

Ihr Vater lag mehr als er saß totenbleich im Wagen, nur die alte Gräfin saß kerzengerade, wie sie immer gesessen hatte, und starr und geisterhaft sah ihr toter Blick vor sich hin.

Jenseits der Brücke hatte General Bem vierzig Kanonen auffahren lassen, und sie kamen eben dazu, als Krukowiecki die Weisung erhielt, man werde auf ihn schießen, wenn er das rechte Weichselufer betrete. Zusammenfallend suchte der alte Intrigant mühsam einen Weg nach Warschau zurück, er war vernichtet. Valerius war übrigens nicht mit vielen[278] andern der Meinung, daß er offener Verräterei anzuklagen sei, er sah jenes unglücklichste Moment des polnischen Nationalcharakters zum äußersten in ihm wirksam, welches den einzelnen persönlichen Einfluß, den einzelnen persönlichen Ehrgeiz ohne aufopfernde Rücksicht für das Ganze und Große um jeden Preis geltend macht. Wo diese Fähigkeit der Entäußerung und Entsagung fehlt, glaubte Valerius jetzt mehr als je, da sei auch keine Kultur, und, als Ergebnis derselben, kein gedeihender Staat möglich. So stellte sich ihm das polnische Unglück als ein regelmäßiger Verlauf der ganzen polnischen Geschichte dar, in welcher niemals die einzelne Person dem allgemeinen Bewußtsein einer allgemeinen Notwendigkeit untergeordnet worden, in welcher das Opfer im feinsten Sinne des Wortes unbekannt geblieben sei. In dieser Weise habe auch Krukowiecki blindlings hineingewirtschaftet und nur dafür gearbeitet, bis zum letzten Augenblicke, selbst als Überlieferer an den Feind, die Hauptperson zu bleiben; nebenher sei er der gepriesene Patriot gewesen, mehr aber Krukowiecki als Patriot.

Sie waren im Freien, links nach der Straße von Plock zog das Heer, geradeaus vor ihnen lag der Weg nach Siedlce, die früher so wichtige große Chaussee. Auf dieser wollte die Familie weiter, um dann rechts durch die Wälder nach ihrem Gut zu gelangen und dort ergeben die weitere Entwicklung des Dramas abzuwarten. Hedwig bat unter immerwährenden Tränen, Valerius möge sie begleiten; das kindliche Anschmiegen rührte ihm die Seele; Florian, düster und niedergeschlagen, fand sich mit einigen Bauern ein, um, wie er sagte, die alte Gräfin in Sicherheit zu bringen; er antwortete dem fragenden Valerius, das Ramorinosche Korps rücke durch die Wälder herauf, dem könne er sich anschließen; der Graf sprach nicht ein Wort, der Wagen rollte weiter; Valerius trabte halb unschlüssig hinterher, von der sich zum öftern umschauenden Hedwig wie gezogen. Er wußte es,[279] wie gefährlich der Weg für ihn sei mitten in das von Russen überschwemmte Land hinein.

Florian mit den Bauern war beritten, es ging rasch nach den Wäldern zu, in einiger Entfernung folgte ein einzelner Reiter.

Auch Florian sprach kein Wort, nur seine Handbewegung drückte aus: »Alles ist verloren,« ein einziges Mal, als Valerius sagte, es sei ja nur Warschau hin, erwiderte er: »Warschau ist alles, die großen Herren haben ihr Spiel verloren, und wir kommen hinterdrein.«

Bei einbrechender Nacht vernahm man aus der Ferne jenes ruckweis murmelnde Geräusch, welches den Anzug von Truppen bezeichnet; der Wagen hielt still; Florian und die Bauern ritten auf Rekognoszierung aus; es war eine windige unfreundliche Nacht, der Hufschlag des Reiters, welcher dem Zuge gefolgt war, näherte sich rasch, hielt aber plötzlich still, als er etwa auf zehn Schritt dem Wagen nahe gekommen war.

Valerius ritt langsam und vorsichtig nach ihm hin, und erkannte – Joel.

Florian brachte die Nachricht, es sei ein Teil des Ramorinoschen Korps, wahrscheinlich dessen Avantgarde, man könne die Reise ruhig fortsetzen. – Dies Korps war dadurch so verspätet worden, daß es sich mit Gefechten gegen den Feind zu tief eingelassen, und daß es mehrmals widersprechende, mitunter ganz sorglos klingende Nachrichten von Warschau erhalten hatte.

Es konnte wünschenswert sein, Stanislaus darunter ausfindig zu machen, damit sich dieser seiner Braut annehme, es sprach aber niemand davon, es war Nacht, und, wie immer bei solchem Begegnen, von großer Schwierigkeit, aus einem marschierenden Heere den einzelnen auszufinden. Um einen ungenierten Fahrweg zu gewinnen, bog man auf Nebenwege ab, die Nacht war bald wieder still und tot um die Reisenden, und Valerius, den eine schwere Bangigkeit überfiel, tiefer[280] in das verlorne Land hineinzureiten, fand es nun doch geratener, einen Rückweg zu suchen, welcher ihn mit der Ramorinoschen Kolonne vereinigte.

Joel, der sich dem Wagen nicht zu nähern wagte, beschwor ihn umsonst; er ritt hin, um von Hedwig Abschied zu nehmen. Was sollte er hier? Was konnte er helfen?

Aber es war bereits zu spät. Die Heeresabteilung, welcher sie eben begegnet waren, bildete nur eine Nebensäule des Ramorinoschen Korps, die leichte Reiterei der Russen umschwärmte es bereits, in diesem Augenblicke erschien dicht neben ihnen ein Kosak; man sah ihn beim Scheine der Wagenlaternen, er mochte die polnischen Uniformen von Valerius und Joel erkennen, war schnell wie ein Blitz wieder verschwunden, und gleich darauf vernahmen die Reisenden aus allen Seiten des Waldes ein schreckenerregendes Hurra. Die Kosaken stürzten zwischen den Bäumen hervor; Florian mit den Bauern gaben Feuer; Valerius und Joel zogen die Säbel und verteidigten sich gegen die eindringenden Lanzen; aber aller Widerstand war nutzlos, der feindliche Trupp ward immer stärker, und mochte wohl ein Pulk von hundert Mann sein, das Kämpfen war bald zu Ende, der alte Graf lag im Blute sterbend ausgestreckt im Wagen, Valerius und Joel waren entwaffnet und gebunden, Florian, als Schmied von Wavre erkannt, schwer verwundet, war an ein Kosakenpferd gebunden, seine Bauern hatten entweder unter den Lanzenstichen und Kugeln der Kosaken ihr Leben verloren, oder hatten sich in das Waldesdickicht gerettet; Hedwig saß vorn auf dem Sattel des bärtigen Führers dieser Kosakenabteilung, der sie mit den rauhen schmutzigen Händen liebkosen wollte; man ritt und fuhr nach einer Waldblöße, um dort den nahen Morgen zu erwarten und den Wagen zu plündern.

Da wurde ein Feuer angezündet, der alte Graf, welcher indessen verschieden war, aus dem Wagen geworfen, und man[281] ging eben daran, die Gräfin, welche fortwährend unbeweglich geblieben war, anzufassen, als Florian in übermenschlicher Anstrengung Reiter und Pferd, an welche er mit einem starken, langen Riemen gebunden war, mehrere Schritte mit sich fortriß, auf den Wagentritt sprang, den im Wagen stehenden Kosaken mit einem Schlage ins Genick niederwarf, um den Gürtel faßte und brüllend in die Lanzen der übrigen warf.

Auffallenderweise trat eine große Stille ein, die Kosaken schienen das heilige Gefühl des Schmiedes zu erkennen und zu ehren, sie machten keine Anstalt, den also getroffenen Kameraden zu rächen, wie ihnen überhaupt eine solche kameradschaftliche Verpflichtung nicht eigen zu sein scheint; Florian stand eine Weile unangefochten neben der unbeweglich sitzenden Gräfin, das Feuer beleuchtete sein verwildert fliegendes, dickes Haar und seine Züge, welche die entsetzlichste Wut ausdrückten – nur Joel entfuhr der Ausruf: »Florian!«

»Schweig, Jude!« erwiderte dieser, und in demselben Momente verschwand er unter den Pferden. Der Kosak, an dessen Tier er gefesselt war, hatte es fortgedrängt, Florian war hinuntergezerrt, und da die Kosaken nach der Erschütterung des Schweigens eine lebhafte Bewegung machten, so war er unter den Hufschlägen ihrer Rosse zermalmt worden.

Der erste Morgenschein flog grau über den Himmel, man erkannte, daß die alte Gräfin leblos war und nur noch mumienartig dasaß; schonend hoben sie die Kosaken aus dem Wagen und setzten sie an einen Baum.

Dort saß sie, drohend noch im Tode, als man aufbrach, eine schreckliche Leiche einsam im Walde; einige Schritte vor ihr lag der verstümmelte Leichnam Florians, einige Schritte neben ihr der erschlagene Graf, ihr Sohn.

Hedwig, Valerius und Joel sahen noch tiefer aus dem Walde auf die Lichtung zurück, über welche ein grauer Morgen aufging.

Hedwig war totenbleich, aber ohne Träne.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 267-282.
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