6.

[28] Einige Tage darauf war Valerius so weit hergestellt, um der Familie des Hauses seine Aufwartung machen zu können. Er fand den Grafen in einem weiten, leeren Saale. Dort saß er auf einem Räderstuhle, große Jagdhunde lagen daneben, die Füße waren in weite Pelzstiefeln gehüllt, ein reicher Zobelpelz schützte ihn gegen die ziemlich unbehagliche Temperatur des öden Raums.

Der Graf empfing ihn mit der Höflichkeit eines gewandten Weltmannes, Valerius mußte sich einen der schlechten Stühle nehmen, welche in geringer Anzahl und unordentlich im Saale herumstanden, und das Gespräch war sogleich mitten im Kriege.

Der Graf hatte eines jener verwüsteten Gesichter, die auch mitten in der Verwüstung noch Spuren von großem Reiz entwickeln. Die Formen sind ursprünglich scharf und schön gewesen, das Leben hat sie hie und da abgestumpft, die Mienen sind durch tausend Affekte ein wenig verzerrt worden. Die Mienen sind aber die Sprache der Formen, und so machte der Anblick des Grafen keinen wohltuenden[28] Eindruck. Das graue Haar lockte sich nur spärlich noch um die Schläfe, das Haupt war schon kahl; auf der hohen Stirne liefen allerlei Leidenschaften wild durcheinander, und die Augen lauerten dreist, oder kamen frech angesprungen. Um den Mund, welchen ein schwarzer Knebelbart zur Hälfte verbarg, flogen jene schnell wechselnden, ungewöhnlichen Falten und Eindrücke, die wie ein unbekanntes Alphabet aussahen, dessen Buchstaben man nicht zusammenreimen kann.

Das war der Mann, welcher vor Valerius saß, heftig schilderte, verbindlich dazwischen sprach, einen der Hunde über den Kopf schlug, die Peitsche nach dem alten Diener warf, der den Tisch zu decken kam, und mit dem Fuße an einen der Hunde stieß, schnell wieder verbindlich gegen den Fremden lächelte, und mit vielerlei Redensarten das Gespräch fortzuspinnen wußte.

Aber in dem einen Punkte war er wie die Besten: alles ward hingegeben für Polen, alles aufs Spiel gesetzt – der Graf brauchte nur seltener das Wort »Vaterland«, er sprach vom Königreich Polen.

Selbst diese Eigenschaft hatte für Valerius etwas Unheimliches. Dies Gefühl ward noch gesteigert durch die Mutter des Grafen, welche bald darauf eintrat. Es war eine Matrone von achtzig Jahren, aber sie trug ihre hohe Figur noch kerzengerade, und ihr starres, mageres Gesicht war noch voll angefangener Erzählungen von früherer außerordentlicher Schönheit. Sie machte den Eindruck eines Gespenstes auf Valerius, denn sie war schwarz gekleidet vom Scheitel bis zur Zehe, und ihre Manieren waren steif und förmlich, wie man sie an alten spanischen und französischen Hofdamen beschreibt. Eine kurze Rede, welche sie an ihn richtete, und worin sie im Namen der Nation dankte, daß er aus fremdem Lande zum polnischen Kriege gekommen sei, machte einen peinlichen Eindruck auf den Deutschen. Die Worte kamen wie aus dem Grabe und waren kühl wie die[29] Luft der Grüfte. Und doch war diese Frau eigentlich das Ehrwürdigste, was man sehen konnte. Als achtzehnjähriges Mädchen hatte sie die erste Teilung erlebt und jene erste Wut des Adels gesehen, die noch nicht wußte, wie sie sich gestalten sollte über die grinsende Neuheit der Dinge. Sie war am Hofe des gelehrten Stanislaus, des letzten Königs gewesen, sie hatte Kosciusko durch ihre Schönheit und ihre Rede begeistert, ihr Gatte war mit ihm bei Maciejovice gefallen, fünf ihrer Söhne waren in den Napoleonischen Kriegen untergegangen, im Jahre zwölf hatte sie zu Napoleon gesprochen vom Königreiche Polen, vor wenig Tagen war ihr letzter Enkel bei Grochow in der Schlacht gewesen, und sie wußt' es noch nicht, ob er noch lebte, und fragte auch nicht danach. Seit Kosciuskos Falle hatte niemand sie mehr lächeln sehen, und sie trug nun sechsunddreißig Jahre die schwarzen Kleider.

»Wenn man von Wilna bis an die Karpathen kein russisch Wort mehr hören wird,« pflegte sie zu sagen, »dann sollt ihr mich mit einem weißen Kleide in den Sarg legen, und ich will im Tode wieder lächeln. Ich will auch nicht eher sterben, als bis dies geschieht, oder bis man noch einmal schreibt: Es gibt kein Polen mehr. Und ließe Gott, unser Gott, das letztere geschehen, dann sollt ihr meinen Leichnam auf das freie Feld werfen für die Vögel des Himmels, damit die Kunde von unserem Unglück durch alle Lüfte getragen werde, und Gott sie hören muß.«

Es ist ein tiefes Geheimnis um die Heimat, und es ist ein wahres Wort: Was uns wohl tun soll, muß uns heimatlich werden. Valerius staunte die lange Grabesfrau an, er sah in das untraulich lächelnde Gesicht des Grafen, aber es war ihm kalt im Herzen. Er fühlte es mit tiefem Weh, daß ihn nur ein Begriff mit diesen Leuten vereine, kein Tropfen warmen Blutes; daß die Nationalitäten, die ihm stets unwichtig erschienen waren, von gewaltiger Bedeutung und Trennung seien.[30]

Nur die Tochter des Hauses, die schöne Hedwig, erinnerte ihn an das frische polnische Element, an die ewige, tragische Jugend dieses Volkes, die nimmer klagt und wimmert, und unter Tränen lacht. Sie und der liebenswürdige Joel hielten seinen Mut aufrecht in dieser unnahbaren Fremde. Die Liebenswürdigkeit ist überall daheim.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 28-31.
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