7.

[31] Die beiden Jugendgestalten waren es allein, die seinen Geist ein wenig aufheiterten. War es Folge der Krankheit, oder rührte es von andern Einflüssen her: Valerius befand sich fortwährend in einer Stimmung, die ihm das Leben ohne alle Farben, ohne alle Reize darstellte. Er war durchgehends unzufrieden mit sich selbst, unzufrieden, daß er sich früher jedem Anregen zur Begeisterung hingegeben hatte, unzufrieden, daß ihm jetzt alles grau, unerquicklich, uninteressant erschien.

Es war ein rauher Abend, als ihm diese Gedanken quälender als je auf Herz und Lippe traten. Er saß in dem großen Saale, wo die Familie zu Abend gegessen hatte. Die alte Gräfin und der Graf waren nach ihren Zimmern gebracht, Cölestin, der betagte Diener, räumte den Tisch ab und brachte die leeren Flaschen beiseit. Das war ein Geschäft, das der regierende Herr Graf alle Tage einigemal nötig machte. Der weite wüste Saal lag in unheimlicher Dämmerung, ein Licht, das für Valerius bestimmt war, brannte flackernd an einem Fenster, und der Luftzug, der durch die schlecht verwahrten Rahmen drang, drohte es zu verlöschen. Der alte Domestik ging leisen Schrittes schweigend ab und zu; in dem fernsten Winkel des Saales stand Valerius und blickte in die unfreundliche Nacht hinaus. Hie und da sah er eine Schneeflocke vorübergleiten.

Er war in einer traurigen Stimmung, wie sie im[31] jungen Mannesalter bei einem prüfenden, strebenden Geiste leider nicht so selten erscheint, als man zu glauben geneigt ist. Sein Charakter war nicht von jenem leidenschaftlichen Schwunge gehoben, der ohne weiteres auf den Dingen und Erscheinungen hinfliegt, welche sich ihm bieten. Obwohl der begeisterndsten Gefühle fähig, war doch ein gewisses, rationelles Wesen in seinem Innern mächtig. Er hatte selten rasch und leidenschaftlich eine Richtung eingeschlagen; blieb er nun zwar im Verfolgen derselben um so standhafter und hartnäckiger, je tiefer allmählich seine Überzeugung Wurzel geschlagen hatte, so fehlte ihm doch in kritischen Momenten jener schwärmerische Fanatismus, der alle Zweifel überflügelt und mit bunten Farben die blasse Wirklichkeit übertüncht. Jenes begeisternde Element Alexanders des Großen ging ihm ab, das dieser von seiner exaltierten Mutter Olympia geerbt hatten.

Man erzählt von dieser, daß sie die wildeste unter den Frauen gewesen sei, welche mit aufgelöstem Haar und brennenden Fackeln und Augen in dunkler Nacht zum Opfer der Götter schritten. In der Nacht, bevor sie Alexander empfing, hatte sie geträumt, Jupiters Blitze schlüge in ihren Schoß.

Dieser Blitz des Jupiter, der die zweifellosen Helden und Verbrecher schafft, der Blitz des Fanatismus, fehlte dem Valerius. Sein Wesen war fern von der schwanken Unentschlossenheit, von dem charakterlosen Umhertappen. Es war eben im Gegenteil zuviel Charakter in ihm, als daß er hätte gerade fortschreiten können, ohne wiederholt zu prüfen; es war zuviel Humanität in ihm, als daß eine entschiedene, unerschütterliche Feindschaft in seinem Herzen hätte entstehen können. Die Humanität verträgt sich nicht mit dem romantischen Heldentume.

Valerius hatte sich Polen anders gedacht, und er schalt sich, daß er sich wie ein Kind romantischen Vorstellungen hingegeben hatte. »Ist es nicht töricht, andere Zustände von einem Lande verlangen zu wollen, dessen Entwicklung so[32] gewaltsam gestört worden ist! Bedarf's denn äußerer bunter Illusionen, um die Begeisterung für einen schönen Begriff lebendig zu erhalten? – – Leider ist es so; unsere Augen sind die schnellsten Boten, wir tun immer nur halb so viel für ein garstiges Mädchen, als für ein schönes, wenn wir auch glauben, es mit jener so gut zu meinen, als mit dieser.«

So sprach er leise vor sich hin. Er kam nicht einmal zu dem Geständnisse, daß das Unbehagliche um ihn her, der wüste Saal, das Unordentliche des Hauses das meiste beitrügen zu seinem Übelbefinden. Er vergaß es völlig, daß er die Ansprüche eines Deutschen an eine fremde Nation mache, daß es jene Gemütlichkeit, jenes Beisammensitzen, jenes Schwätzen sei, was er vermisse. Über die Nationalunterschiede glaubte er so weit hinweg zu sein, und wußte nicht, daß sie bis in die geheimsten Winkel unseres Wesens eingepreßt sind, und am lautesten sprechen, wenn man wer weiß welch hohe Motive zu hören glaubt. Wir erfreuen uns anders, wir erholen uns anders, wir hassen und lieben anders – das wirkliche Nationalleben Italiens und Spaniens würde uns lange Zeit ebenso unbequem erscheinen; und vorzüglich zu Zeiten allgemeiner Erregtheit, wo das angewöhnte Wesen ohne Hülle hervortritt. Die Völker sind in gegenseitiger Beurteilung noch lange nicht vorsichtig genug.

Valerius gestand sich's, daß er in einem wohnlichen Zimmer, im breiten Gespräch mit deutschen Freunden Welt und Dinge plötzlich anders ansehen würde.

Cölestin war unterdes schon lange mit seinen Geschäften zu Ende gekommen, hatte das Licht wieder auf den Tisch gestellt, und schien den Aufbruch des Gastes vom Hause erwarten zu wollen. Zur deutschen Nationalität des Valerius mochte es auch gehören, daß er keinen Diener warten lassen, hinter dem Stuhle bei Tisch sehen konnte; es quälte ihn, es benahm ihm alle Ruhe, wenn er wußte, daß ein Mensch eine Zeitlang lediglich von ihm und seinen Launen bestimmt[33] werde. Rasch ging er nach dem alten Cölestin hin. Zu seinem Erstaunen sah Valerius in einer andern Ecke des Saales Joel auf einem Stuhle sitzen; er hatte das Gesicht in die Hand gedrückt und schien zu schlafen. Valerius zog ihm die Hand weg und fand das blasse Gesicht seines jungen Freundes in Tränen gebadet.

Wenn man solche Tränen nicht errät, muß man nicht danach fragen. Das war Valers erster Gedanke, indes glaubte er ihre Quelle zum Teil zu kennen, und er wollte den jungen Mann zu trösten versuchen. Gleich als ob er selbst dazu einer behaglicheren Stimmung bedurft hätte, fragte er Cölestin, ob es möglich sei, in dem Kamin Feuer anzumachen. Dem Alten schien die Frage so völlig überraschend zu sein, daß er sich lange besinnen mußte, ehe ein gedehntes »O ja!« zum Vorschein kam.

Es befand sich nämlich wirklich ein geschmackvoller Kamin im Saale. Er war nach Art der Pariser eingerichtet und wie jene mit einer messingnen Einfassung umgeben. Alles war indessen mit Staub bedeckt, und Cölestin antwortete, daß seit fünfzehn Jahren kein Feuer darin gewesen sei. Damals wäre der regierende Herr Graf von Paris gekommen und habe den Kamin anlegen lassen; die selige, gnädige Gräfin wäre ein paarmal dagesessen, wenn sich Besuch auf dem Schlosse eingefunden hätte; die neue Gewohnheit sei aber bald wieder vergessen worden.

Magyac ward gerufen, um den Kamin zu reinigen, Valerius nahm Joel unter den Arm und ging schweigend mit ihm auf und ab. In kurzem brannte eine lustige Flamme und erleuchtete den wüsten Saal, ja das Licht lief bis in den nahen Wald hinüber. Die jungen Männer setzten sich an den Kamin. Cölestin und Magyac hatten sich in einen Winkel zurückgezogen und sahen mit einer Art von Neugierde auf das Feuer. Magyacs luftrotes Gesicht stach wunderlich ab von dem schneeweißen Haare des alten Domestiken. Cölestin[34] war groß, das Alter hatte seine Schultern schon etwas nach vorn gebogen, aber sein Schnurrbart war noch pechschwarz, und die eingefallenen Züge traten noch mit großer Strenge hervor. Er hatte ein Auge verlogen und das andere war immer zur Hälfte bedeckt vom Augenlide, so daß man selten das frische Schwarz des Augapfels erblickte. Die ferne Flamme spielte wunderliche Lichter auf die beiden Sarmatengestalten, und Valerius, ein lebhafter Freund von solchen Bildern, machte eben seinen Nachbar auf die ganze lichte und dunkle Umgebung aufmerksam, als die Szene noch lebendiger wurde durch den Eintritt Hedwigs. Sie klatschte in die Hände und kam zum Kamin gesprungen; ihre französische Zofe rief entzückt, sie sehe Paris wieder; sogar Joel wurde munter, und man schwatzte ein Weilchen heiter und lustig. Das frische sechzehnjährige Mädchen glänzte wie ein zweites Feuer vor den Flammen mit ihren blitzenden, mutwilligen Augen, den weißen Schultern und den braunen Flechten, die ihr halb aufgelöst um den Nacken flogen. Es schien, als habe sie eben zu Bett gehen wollen, da sie die unerwartete Gesellschaft im Saal gefunden hatte. Das Halstuch trug sie in der Hand, und den Kamm, welcher schon aus dem Mittelpunkt der Flechten gezogen war, steckte sie scherzend in den Scheitel des offenen Haares. An sich harmlos, von Jugend auf unter Männern, war sie dreist und am fernsten von aller Prüderie. Ihre Großmutter war ja auch ein Mann und kümmerte sich nur um die Befreiung des Vaterlandes, nicht aber um das Busentuch ihrer Enkelin, die jetzt über Nacht zur Jungfrau emporgewachsen war. Ihre Mutter hatte sie kaum gekannt. So war sie denn wie ein lustiges, freies Füllen gediehen, war natürlich dreist und doch voll echten Schamgefühls. Als sie ihre Freude am Feuer gesättigt hatte, sagte sie »Bonne nuit, Messieurs«, und sprang davon. Es trat eine augenblickliche Stille ein, Valerius warf neues Holz aufs Feuer, Joel sah gedankenvoll in die Flammen[35] hinein, als wollte er sein Leben bis in die fernste Zukunft darin entdecken. Da hörte man plötzlich außerhalb des Hauses einen gellenden Pfiff durch die Luft schwirren. Joel schrak sichtbar zusammen, Valerius wendete sich schnell um und fragte die noch im Winkel stehenden Bedienten, was dies zu bedeuten habe. Sie erklärten mit halben Worten ihre Unwissenheit; es war aber dem Valerius nicht entgangen, daß Cölestin seine Hand nach dem Rockzipfel Magyacs ausgestreckt hatte, wahrscheinlich, um diesen vor einer Unvorsichtigkeit zu warnen. Magyac war offenbar am meisten beunruhigt, und da er noch weniger an die unterwürfige Domestikenform Cölestins gewöhnt war, dessen Körper wie eine Bildsäule unbeweglich stand, während die Befehle seiner Herrschaft ruhten, so wagte er's, sich ans Fenster zu schleichen und hinauszublicken. Er ging sogar auf die entgegengesetzte Seite des Gemachs zu einer halb zerschlagenen Glastür, die auf einen verfallenen Balkon führte. Dabei schlich er aber auf den Zehen, als sollte Valerius, den er wie seinen Herrn betrachtete, die Dreistigkeit seines Herumstreichens im Saale nicht bemerken.

Verdrießlich über das Verleugnen einer Erscheinung, die seinen Umgebungen weniger unbekannt zu sein schien, hieß er die beiden Leute zu Bett gehen.

Cölestin war wie ein Blitz verschwunden, und Magyac verbarg seine Eile wenig. Die freundliche Behandlung, welche er bisher von Valerius erfahren hatte, war nicht ohne tiefen Eindruck auf den jungen Polen geblieben. Er war an rauhere Hände gewöhnt, und bewies dem deutschen Herrn eine lebhafte Hingebung. Valerius hatte oft große Mühe, sich den Versuchen Magyacs zu entziehen, wenn er ihm den Arm oder den Rockzipfel küssen wollte. An jenem Abende machte ihm diese orientalische Manier Magyacs keine Sorge. Wie ein Fuchs klemmte er sich mit seinem Pelze durch die halboffene Saaltür und verschwand.[36]

»Gegen die besten Freunde ist diese Nation mißtrauisch und stolz,« brummte Valerius mürrisch vor sich hin, und setzte sich wieder ans Feuer; er sah Joel fast unmerklich mit dem Kopfe nicken, tonlos die Lippen bewegen und in die Flamme starren. Es war totenstill; nach einer Weile glaubte Valerius gegen den Wald zu wiederum jenes Pfeifen zu vernehmen, wenn auch ganz leise – er horchte aufmerksam: alles blieb still, nur die Saaltür knarrte im Luftzuge.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 31-37.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das junge Europa
Heinrich Laubes gesammelte Werke: Band 1. Vorbericht und Inhaltsverzeichnis. Das junge Europa. Band 1. Die Poeten
Das junge Europa. 3 Bde. Bd.1: Die Poeten Bd.2: Die Krieger. Bd.3: Die Bürger.
Das junge Europa

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon