[37] Die beiden jungen Männer brachten noch eine lange Zeit schweigend zu. Jeder war offenbar in trübe, düstere Gedanken versunken. Joels Traurigkeit schien indes weicher und von höherer Reizbarkeit zu sein: zuweilen rollten dicke Tränen über seine Wangen.
»Der Freiheitskrieg eines Volkes,« sagte endlich Valerius leise vor sich hin, »ist wie ein Liebeskrieg, man nimmt die Unterstützung eines Fremden an, aber betrachtet ihn gleichgültig wie ein Werkzeug, in den Herzensrat kann er nimmer aufgenommen werden.«
Da sah er zwei große Tränen des armen Joel; er schalt sich, daß er so drängendes, nahes Leid über seinen Grillen habe vergessen können, und suchte nach einem Eingange, dem Kranken nahe zu treten, ohne ihn durch Beileidsgeschrei noch schlimmer an seine Krankheit zu erinnern. Alle Leiden sind von einer Familie, die meisten Trostgedanken passen auf alle, und die edelsten Leiden sind wie die edelsten Familien: sie hören sich nicht gern selbst nennen, wenn man über ihre Schmerzen spricht. Das Unglück hat die zarteste Schamhaftigkeit. Deshalb suchte Valerius einen fernen und doch verwandten Gedankengang, um nur in die Tonart seines weinenden Nachbars einzufallen, nicht aber seine Trauermelodie selbst anzustimmen.[37]
»Die Natur,« hub er leise an, als setze er sein Selbstgespräch fort, »ist doch von tiefer Gerechtigkeit, sie gleicht das äußere Leben durchs innere aus. Je schwärzer es außen um den Menschen wird, desto mehr wird er nach innen gedrängt, desto lebendiger entzündet er das Licht seiner inwendigsten Seele; Leute, denen es immer nach Wunsch geht, sehen niemals die verborgenen Reize des unergründlichen Menschen. Der Flüchtling entdeckt alle versteckten Täler seiner Heimat. Nur das wäre ein zweifelloses Unglück, wenn großes Leid keine Poesie in dem Menschen zu wecken vermöchte, aber das geschieht nicht: die unglücklichsten Menschen sind immer die begabtesten. Ein jeder von ihnen trägt seine Tragödie im Herzen, die hebt und erquickt ihn. Der Schmerz ist der edelste Reiz. – –«
Joel drückte ihm die Hand. Sein Schmerz löste sich in einzelne Worte, endlich in eine zusammenhängende Erzählung auf. Und es ist mit dem Schmerze ebenfalls wie mit schmollenden Liebesleuten: wenn sie erst zu sprechen anfangen, und sich ihr Leiden vorhalten, dann folgt auch die Versöhnung.
Sein Vater Manasse spielte die Hauptrolle in der Erzählung. »Dieser lange, magere Mann,« sagte Joel, »war einst kräftig und schön, und in seiner gefurchten Stirn liegen lange, abenteuerliche Geschichten, unglückliche Geschichten. Er hat allen Wissenschaften obgelegen, die den menschlichen Geist anziehen, und nichts ist ihm geblieben, was sein Alter reizt und mit Anteil erfüllt, als sein Geld und sein Sohn. Nach jenem strecken tausend Diebe die Hände, über Nacht kann es verschwunden sein; der Sohn, sein Stab und seine Stütze, verläßt ihn mit Undank. Der Glaube, an den sich der Vater krampfhaft klammert, obwohl er seinem Herzen fremd ist, dieser Glaube ist seinem Sohne ein Greuel. Und schiene die Sonne zwölf Monden lang ununterbrochen Tag und Nacht, sie fände in dieser kleinen Familie keinen glücklichen Winkel.«[38]
Joel seufzte tief und hielt einen Augenblick inne.
»Nur aus Szenen der Verzweiflung, welche meinen armen Vater zuweilen überfällt, weiß ich einiges aus seinem Leben. Er ist verschlossen wie das Grab. Die Medizin scheint er in seinen jungen Jahren am eifrigsten betrieben zu haben; in allen bedeutenden Städten Europas hat er sie ausgeübt. Aber auch die Ärzte haßt er wie die Pest. Einst war ich schwer krank und lag im Fieberschlummer auf dem Lager. Manasse saß weinend an meinem Bett und glaubte meinen Geist vom Fieber oder vom Schlafe befangen. Dem war aber nicht so, ich hörte alles, was er vor sich hinlispelte. Er verwünschte die Natur, wenn sie mich tötete, das Auge seines Lebens. ›Kein Mensch kann einen Pulsschlag schaffen, nur die Frechheit behauptet's‹, murrte er vor sich hin, ›rette ihn Zufall oder Jehova, rette ihn, wer am mächtigsten ist.‹ Dann brach sich seine Stimme zu großer Milde, er rief mehrmals den Namen Maria, und erzählte vor sich hin, wie er des Abends in den Mantel gehüllt unter Kirchenpfeilern gestanden, wie sie gekommen sei und ihn geküßt habe, heiß und brünstig. ›Aber Jude – Jude – ein Jude!‹ stöhnte er ingrimmig, ›ich verlor die ganze Welt, und mein eigen Kind mußt' ich mir stehlen.‹ – –
Jene Maria war vielleicht meine Mutter. Einmal nur hab' ich's zu Manasse gesagt, da starrte er mich an und verfiel in eine schwere Krankheit. Kurz, mein Herr, ich bin als Jude aufgewachsen, und in dem einen Worte liegt das Unglück eines ganzen Menschenlebens.
Die Juden Jerusalems kreuzigten Christum, und seine Bekenner kreuzigen dafür seit achtzehnhundert Jahren alles, was Jude heißt auf dem weiten Erdboden. Und was noch schlimmer ist, sie haben bereits einen großen Teil dieses Volkes so weit gebracht, daß er der Geißelung, der Verachtung würdig ist. Sie haben ihnen Messer und Schere genommen, und prügeln sie, wenn sie mit ungeschornem Barte umhergehen. – –[39]
Was soll ich Ihnen mehr erzählen? Mit jenem Worte ist alles gesagt. Ich bin blind von Kindesbeinen auf – nicht genug: ich bin taub geboren – nicht genug: meine Zunge ist lahm und lernt nicht sprechen. – Solche Menschen nennt man elend, aber viel größeres Elend liegt in den drei Worten: Ich bin ein Jude. Jene sehen und hören nichts von der Schönheit der Welt, sie wissen nicht, was sie entbehren. Wir sehen und hören und dürfen nicht genießen. Es gibt kein größeres Unglück, als verachtet zu sein, nicht wahr? – Doch, doch – das Unglück, einem verachteten Volke anzugehören, ist noch ein größeres. Verbirg dich jenseits der Meere, fliehe auf den Flügeln der Abendröte in die Nacht hinein, wo du einen Menschen findest, hörst du die drei fürchterlichen Worte: Er ist ein Jude! – –
Mein Vater ließ mich alles lernen, was ich erlernen wollte. Die Wissenschaft tröstet nicht, aber sie hilft. Damals war er noch sanfter, aber mit dem Alter stieg sein Unglück, weil seine Schwäche stieg. Seit einiger Zeit gehört er zu der überspannten Sekte, welche sie Chassidim nennen, und ist grundlos elend. Sonst kümmerte er sich nicht um seinen Glauben, nur aus Stolz verließ er ihn nicht; er ließ mich gewähren, wenn ich mich um die Bräuche nicht kümmerte, er fragte nie danach – jetzt ist er bigott, ohne an seine neuen Dinge zu glauben. Er will einen Glauben haben, und zwar den strengsten, um die Öde seines Wesens zu bevölkern. Jetzt mag ihm mein Heidentum viel Herzeleid machen, obwohl er mir nimmer ein Wort darüber sagt.
Als ich von der Universität heimkam, fand ich meinen Vater bei dem Herrn dieses Hauses, bei dem er Geschäfte hatte. Als dieser hörte, daß ich musikalische Kenntnisse besäße, fragte er, ob ich seiner Tochter Musikunterricht geben wolle, ihr Verlobter, der Graf Stanislaus liebe Musik. Fräulein Hedwig war damals ein Jahr jünger als jetzt; man hatte die beiden jungen Leute schon als Kinder verlobt –[40] ich blieb. Da kam die Revolution und der Krieg. Ich bat um eine Soldatenjacke, ich wollte ein Vaterland haben – man gewährte sie mir. Mit Ihnen, mein Herr, kam ich zum erstenmal seit dem Dezember wieder hierher, und ich törichter Mensch wundere mich, daß man mir unter dem Kaskett noch immer den Juden ansieht. – –
Ich weiß selbst nicht, was mir fehlt, und ich will auch nicht mehr weinen – lassen Sie uns zu Bett gehen.«
Der Vorschlag war dem Valerius nur zu angenehm, er hatte keinen Trost für ihn. Die Lücke in seiner Erzählung, wo er von der Universität heimkehrte, war ihm nicht entgangen.
Man hatte das Feuer vergessen, es war dunkel geworden, nur die glühende Asche warf einen unsicheren roten Schimmer auf das schmerzenreiche Antlitz des schönen Joel. Valerius nahm ihn bei der Hand, und sie suchten schweigend ihre Zimmer.
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