[70] Nein! vor dem aufgestekten Hut,
Du Mörderangesicht!
Bükt sich kein Mann voll Heldenmuth,
Bükt Wilhelm Tell sich nicht!
Knirsch immer, du Tyrannenzahn!
Wer frey ist, bleibet frey!
Und wenn er nichts mehr haben kann,
Hat er noch Muth und Treu!
Der Landvogt voll von Raache schnaubt
Ihn an: »Schieß deinem Kind
Schnell einen Apfel weg vom Haupt;
Sonst würg ich dich geschwind«!
Tell hört und seufzt: »Ach, der Tyrann!
Ich sterbe, Sohn, für dich!
Doch Sohn! ich schieße, ja ich kann
Erretten dich und mich«!
Drükt an die Brust ihn – welch ein Schmerz! –
Und lispelt ihm: »Steh still!
Eh schlägt nicht mehr mein Vaterherz,
Eh ich dich trefen will«!
[70]
Und führt ihn sanft an einen Baum,
Drükt ihm den Apfel auf
Und legt den angewiesnen Raum
Zurük im schnellen Lauf,
Nimmt eilends Pfeil und Bogen, spannt,
Blikt scharf – fest steht der Knab –
Und drükt mit unbewegter Hand –
Es knällt – den Apfel ab!
Voll jugendlicher Munterkeit
Sucht ihn der Knab; in Eil
Bringt er dem Vater voller Freud
Am Apfel seinen Pfeil.
»Hätt der ihm nur ein Haar gefehlt,
Der zweyte träfe doch«!
»Wen?« »Geßler, dich! Du lägst entseelt,
Und Tell wär frey vom Joch«!
Der Vogt von Raach und Wuth entflammt,
Bindt schnell ihm Händ' und Füß'
Und schäumt und stampfet und verdammt
Den Tell zur Finsterniß.
Gebunden bleibt der Held ein Held,
In Ketten Tell noch Tell.
Gott, dem die Freyheit stets gefällt,
Sieht ihn und hilft ihm schnell.
Er ruft dem Sturm. Der Sturm braust her,
Die Schiffer stehn erblaßt,
Sehn bebend keine Rettung mehr,
Wenn Tell das Steur nicht faßt.
Des Helden losgebundner Arm
Arbeitet fort zum Strand.
Tell springt und steht von Freyheit warm
(Das Schiff prellt weg) am Land!
[71]
Die Wogen rauschen fürchterlich
In des Tyrannen Ohr,
Tell sieht zu Gott auf, stärket sich
Und läuft ihm schnell zuvor.
Er kömmt, auf seiner Stirne Zorn,
Verwirrung im Gehirn;
Tell sieht ihn hinter einem Dorn,
Sieht Tod auf seiner Stirn'.
Da zielt er, drükte – Heil dir! – los;
Der Pfeil zischt in die Brust.
Des Mörders schwarzes Blut zerfloß,
Und Tell sah es mit Lust.
Die Freyheit seines Vaterlands
Steht auf mit Geßlers Fall,
Und bald verbreitet sich ihr Glanz,
Bald strahlt sie überall.
Buchempfehlung
Ohnerachtet Schande und Laster an ihnen selber verächtlich / findet man doch sehr viel Menschen von so gar ungebundener Unarth / daß sie denenselben offenbar obliegen / und sich deren als einer sonderbahre Tugend rühmen: Wer seinem Nächsten durch List etwas abzwacken kan / den preisen sie / als einen listig-klugen Menschen / und dahero ist der unverschämte Diebstahl / überlistige und lose Räncke / ja gar Meuchelmord und andere grobe Laster im solchem Uberfluß eingerissen / daß man nicht Gefängnüsse genug vor solche Leute haben mag.
310 Seiten, 17.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro