Beziers

[857] Es läßt die Sanduhr Korn an Korn verrinnen,

Und fällt das letzte, ist die Stund von hinnen;

Also mit jedem Augenblicke fällt

Ein Toter in Beziers zum blutgen Grunde;

Ein Dämon hat die Leichenuhr bestellt,

Daran zu messen eine Menschenstunde.

Das wilde Kreuzesheer ist eingedrungen,

Und alles Leben wird hinabgerungen.


Simon voran, der harte Todesdegen,

Und fallen muß, wer sich ihm wagt entgegen.

Nicht rühmt das Lied den Tapfern nach Gebühren,

Weil es vom Wirbel bis zur Ferse nieder[857]

Ihn haßt und jedes Zücken seiner Glieder

Und Schild und Speer und alles, was sie führen.


Abt Arnald ruft ins Fechten, wo es stockt:

»Haut ein! der Ablaß und die Beute lockt!«

Den Priester reitet Simon an, zu fragen:

»Herr, sollen wir auch Katholiken schlagen?

Der Unsern viele sind in diesen Mauern,

Ist hier gestattet Mitleid und Bedauern?«


Der Abt entgegnet: »Dessen ist nicht Not,

Schlagt Ketzer, Katholiken, alle tot!

Wenn sie gemengt auch durcheinander liegen,

Gott weiß die Seinen schon herauszukriegen.«


Wenn still und lautlos ginge dies Zerstören,

Man müßte aus den Wunden hier das Blut

Gleich einem Bach im Walde rauschen hören,

Doch wie ein Meer im Sturme schreit die Wut;

Es brennt die Stadt, die Flamme hilft den Waffen;

Wenn Tiger nach Beziers herzögen lüstern,

Den Rauch des Blutes in den heißen Nüstern,

Sie würden müßig hier, bewundernd gaffen.


Dort flüchten Tausende zur Kathedrale,

Nachjauchzt der Mord mit hochgeschwungnem Stahle;

In allen Gassen, Häusern und Gemächern,

In jedem Sparrenwinkel unter Dächern,

In jedem tiefen dunklen Kellerbogen

Wird nachgesucht und wilden Mords gepflogen.


Vom Giebel wird ein Ketzer dort geschleift,

Wie sonst ins Taubennest der Marder greift;

Hier pocht der Scherge an des Fasses Dauben,

Und tönt es dumpf, so wird es aufgebrochen,[858]

Ob nicht ein Ketzer sich hineinverkrochen,

Sein Blut gilt werter als das Blut der Trauben.


»Komm, heilger Geist!« die Priester alle singen.

Kein Greuel kann wie der das Herz empören;

Der Opfer viele in die Flamme springen,

Um nur die Mörder singen nicht zu hören.

Doch Tausende sind jener auch gefallen,

Für welche süß der Lobsang würde schallen.

Die Stund ist aus, nichts gibt es mehr zu morden,

Hoch brennt die Stadt, und weiter ziehn die Horden.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 857-859.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Albigenser
Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe / Versepen 2. Savonarola, Die Albigenser, Don Juan, Helena

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon