Carcassonne

[855] Simon mit seiner ganzen Heeresmacht

Belagert Carcassonne Tag und Nacht.

Drin schützt Roger sein Volk und lenkt den Streit;

Die Männer sind zu jedem Tod bereit.

Der Frauen manche schnitt ihr schönes Haar,

Und gerne bringt sie es zum Opfer dar,

Froh, daß sie kann mit ihrer Zierde nützen,

Flicht sie die Bogensehne draus dem Schützen;

Die Kinder zitternd ihre Hände falten

Und beten zu den Mauern, daß sie halten.


O daß sie hielten! draußen aber stürmen

Beschwingte Felsen von den Schleudertürmen;

Schon brechen hier und dort die Quaderstücke,

Den Feinden lacht die offne Mauerlücke.

Ingrimmig in die Mauern schlägt ›die Katze‹

Mit Eisenkrallen ihre Eichentatze;

Sie schlägt die Takte zu den frommen Sängen,

Womit die Priester helfen ihren Streitern,

Die sie wie weiches Öl ins Feuer sprengen;

Simon gebeut den Sturm, man stellt die Leitern.


Hinan! sie klettern hastig und verwegen,

Und andre stürzen von den höchsten Sprossen

Den Klimmenden entgegen schon, erschossen,

Es fällt ohn Unterlaß ein Leichenregen.[855]

Die Krieger mengen sich im Steigen, Fallen,

Wie eines Springquells Auf- und Niederwallen.


Graf Simon lenkt mit donnernden Geboten

Den Sturm: »Hinan! erschreckt nicht vor den Toten;

Sie fraßen viel vorweg euch von den Pfeilen,

Mit ihnen müßt ihr nicht die Beute teilen;

Im Namen Jesu Christi, drauf und drein!«

Die Schwärme stürmen durch das Mauerloch,

Das von der Katze schütterndem Gepoch

Aufklafft, die Stücke brechen Stein auf Stein.


Doch bricht kein Stück von jenem Heldenherzen,

Das, groß genährt von seines Volkes Schmerzen,

Das Leid und Schicksal all der Seinen trägt;

Seht ihr Roger den Helden, wie er schlägt!

Dort an dem Turm, drauf seine Fahne weht,

Vicomte Roger mit breitem Schwerte mäht

Wie Halme die bekreuzten Männer nieder;

Nie grüßt, wer ihn nicht flieht, die Heimat wieder.


An seiner Seite ficht Graf Foix, der kecke,

Und ihm zu Füßen wächst die Leichenstrecke;

Und die von ihren scharfen Klingen starben,

Läßt Foix mit Schnüren binden jetzt in Garben;

Dem Grafen Simon stürzen sie zu Füßen,

Für jenen Rosenkranz ein Gegengrüßen.


Nachdem er hundert Herzen Halt geboten,

Ist nun auch Foix gesunken zu den Toten.


Im Sturm hat Simon jetzt den Wall erklettert

Und manchen Feind sich aus der Bahn geschmettert,

Indem er durch zu jener Stelle bricht,

Wo Held Roger die hellen Wunder ficht.[856]

Die Besten sind zu jenem Ort gedrungen,

Und heißer ward auf Erden nie gerungen.


Die Sage spricht: dort ballte das Verderben

Im Kampfe sich, dort war so dichtes Sterben,

Daß irr die Seelen, die von dannen wallten,

Im wilden Kampfgewühl zusammenprallten

Und dann, noch krank von ihres Hasses Toben,

Mit Grauen weithin auseinander stoben.


Wie Liebeslust, wenn schon ihr Drang gebüßt,

Nachschwelgend noch mit trunknen Lippen küßt,

So zückt, nicht satt von ihrem Todesstreiche,

Die Hasseslust den Stahl noch auf die Leiche.


»Hinab!« so schallt nun Simons mächtge Stimme,

Er weicht dem Schwert Rogers mit Scham und Grimme;

Die überwundnen Kreuzeskrieger jagen

Hinab, zurück, der Sturm ist abgeschlagen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 855-857.
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