Das Gesicht

[885] Am Kruzifix das Lampenlicht

Bescheint sein sterbend Angesicht;

Durchs Fenster weht die Luft herein

Und stört die Ruh dem Ampelschein,

Daß um die heilige Gestalt

Unsteter Schein und Schatten wallt.


Und wie die Lichter sich bewegen,

Scheint leise sich das Bild zu regen:

Des Dulders letzte Miene bebt,

Mit einem Lächeln sich zu schließen,

Das Auge bricht, die Träne schwebt,

Des Blutes heilge Tropfen fließen.

Noch einmal hebt wie Atemzug

Die Brust, die so viel Liebe trug.


Am Christusbild in stiller Nacht

Kniet Innozenz und betet laut;

Vielleicht ihm vor der Stille graut,

Seit er die Welt so still gemacht?[885]

Er blickt empor zum Gottesbilde,

Ihn schreckt die Liebe und die Milde,

Indem er seiner Tat gedenkt,

Wie blutig er die Welt gelenkt.


Er ragt so hoch und fest am Tage,

Sein Wille starrt, ein Wall von Erz;

Nun wecken Nacht und Bild sein Herz,

Er ruft an seinen Gott die Frage:

»Herr! sieh mich hold und gnädig an,

Laß meiner Brust den Mut nicht weichen,

Gib deines Beifalls mir ein Zeichen,

Daß ich der Welt so weh getan!

O, nicke, daß du mirs geboten,

Daß dir willkommen meine Toten!


Im Tale von Gethsemane

Ergriff dein Herz ein banges Weh,

Hoch schlug es auf in Kampf und Qual,

Die Wasser rauschten durch das Tal:

Und Bäche Blutes ließ ich fließen,

Die Todeswellen brausend schießen

Durch jene unheilvollen Gründe,

Durch manche finstre Schlucht der Sünde,

Wo du mit Feinden heiß gerungen;

Sie hätten sonst dein Reich bezwungen.

Mein Heiland! sieh mich gnädig an!

Und winke: hab ich recht getan?«


Er starrt dem Bild ins Angesicht,

Da löscht ein Falter ihm das Licht,

Und finster ist es um ihn her

Und still; er fragt das Bild nicht mehr.


Bald sieht er andre Lichter steigen

Und andre Kreuze sich nicht bergen,[886]

Die Flammen der Provence zeigen

Die Kreuze auf der Brust der Schergen.

Die Trümmer stürzen, Waffen rasseln,

Und aus dem wilden Feuerprasseln

Hört er verfluchen seinen Namen: –

Als ihn das Schreckgesicht umbraust,

Nimmt er 's Gewissen in die Faust

Und spricht gelassen: »Amen! Amen!«

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 885-887.
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