Ein Greis

[883] »Sturm der Urwelt, habe Dank,

Daß du, schleudernd Felsenklötze,

Bautest die granitne Bank,

Drauf ich lagernd mich ergötze!


Unter mir in wilder Flucht

Braust der Strom und stürzt von hinnen;

Starrend in die rege Schlucht,

Seh ich 's Leben mitverrinnen.


Rasch hinab und nie zurück!

Selbst die Sehnsucht nach dem Alten;

Teure Leiden, schönes Glück,

Leicht zerstiebende Gestalten!


Käm ein Gott und schöpfte mir

Einen Becher aus dem Quelle,

Spräche: ›Trink! ich reiche dir

Noch einmal die beste Welle!‹


Spräch ich: ›Nein, ich trinke nicht;

Was vorüber, sei verloren!

Was die Stunde bringt und bricht,

Werde nicht zurück beschworen!‹


Von dem Sturzbach, windverstreut,

Tropfen mir ins Antlitz dringen;

Will mir die Vergangenheit

Meine Tränen wiederbringen?


Rausche, Zeit, vorbei, vorbei!

Deine Opfer hab sie alle!

Auch dein eigner Sterbeschrei

Tönt mir zu im Wasserfalle.


Ewiger Geist auf flüchtgen Tand

Schau ich fest vom Felsenblocke,[883]

Den ich meistre im Bestand,

Wie Granit die Aschenflocke.


Drüben dort ein Geier streicht,

Hoch und still mit wildem Lauern;

O wie diesem Vogel gleicht

Um der Menschheit Los mein Trauern!


Rauhe Krallen führt mein Schmerz,

Scharfe Augen, rasch Gefieder,

Heißes Blut wie Geiers Herz,

Plötzlich stoßt er auf mich nieder.


Ringsum ist die Welt verheert,

Alles öd und still geworden,

Düster schweigt, in sich gekehrt,

Wer entronnen diesem Morden.


Hundert Burgen sanken hin,

Ungezählter Leichen Grüfte,

Mit der Menschenasche ziehn

Übers wüste Feld die Lüfte. – –


Noch die Freiheit war es nicht;

Dunklen Gruß, verworrne Kunde

Brachte nur von ihrem Licht

Die vorausgeeilte Stunde;


Wie ein Bote liebend eilt,

Mit der Freudenpost zu kommen,

Und vor Ungeduld nicht weilt,

Bis ihr Wort er ganz vernommen.


Ach! es war ein schöner Klang,

Dem die Welt so sehnend lauschte;

Wie ein himmlischer Gesang,

Der im Schlachtgefild verrauschte[884]


Manche, krank, ins tiefste Mark,

Selbst am ewigen Geist verzagen;

Andre haben, still und stark,

Ihren Gott hindurchgetragen.


Tiefer schmerzt, als das Geroll

Zeit und Tod zu meinen Füßen,

Daß ich nicht erleben soll,

Wie sich Welt und Freiheit grüßen.


Doch der Geist, der bald den Riß

Enden wird durch diese Hülle,

Lebt in andern einst gewiß

Seine Freiheit, Macht und Fülle.«

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 883-885.
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