Der Brunnen

[873] Das Gras im Burghof zu Lavaur

Wuchs einsam, ungestört empor,

Schon überhüllt es und umschattet

Gebein, zerstreut und unbestattet;

Raubvögel, die ans Licht es zogen,

Umfliegen hoch im stillen Bogen

Die brandgeschwärzten alten Mauern,

Der dunkle Himmel scheint zu trauern.


Am Brunnen steht sie noch, die Linde,

Die Zeugin einst so schöner Zeiten,

Sie läßt, bewegt vom Herbsteswinde,

Die Blätter leis hinuntergleiten;

Die Sträucher drängen mit Verlangen

Zum Brunnen, Disteln selbst, die rauhen,[873]

Den Rand von Marmor überhangen,

Als möchten sie hinunterschauen.

Ein Sänger steht am tiefen Bronnen,

Sein letztes Lied hinabzuweinen,

Ach, wo versenkt mit allen Wonnen

Giralda ruht, bedeckt von Steinen.


»Der Himmel hat kein Wort geboren,

Wie hold du warst, wie schön, zu sagen;

Die Hölle hat nicht herbre Klagen

Als meine, daß ich dich verloren!


Kein Trost kann mit dem Schmerze ringen;

Du wirst nicht wieder auferstehen,

Wenn Gott dich einmal ließ vergehen,

Kann er dich so nicht wiederbringen.


Da unten mein ich dich zu hören,

Wie deine Lippen traulich flüstern,

Hinabzustürzen werd ich lüstern;

Doch soll ich auch dein Bild zerstören?


Es taucht mir auf mit allen Zügen,

Mit jeder Schönheit unvergessen;

Wie deine Reize unermessen,

Kann auch mein Schmerz sich nie genügen.


Sie senkten in den Schacht dich nieder

Und eine Welt von Freudenschimmer,

Was einmal tot, ist tot für immer:

Die Schönheit, Liebe und die Lieder!«

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 873-874.
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Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe / Versepen 2. Savonarola, Die Albigenser, Don Juan, Helena