Die Führer

[823] Das sehnlichste, das quälendste Verlangen,

Was schuldbewußte Seelen weichrer Art

Ergreift auf ihrer dunklen Erdenfahrt,

Ist der Gedanke: hätt ichs nie begangen!


Der Qualgedanke: wär ich rein geblieben!

Verfinstert ihnen jeden holden Stern,

Vergällt der Freude innerlichsten Kern,

Hat manchen schon in frühen Tod getrieben.


Nur selten mag ein Traum die stillen Wunden

Wie Morgenluft, die einst gefächelt, kühlen,

Daß sie für wenig täuschende Sekunden

Das himmlisch leichte Los der Unschuld fühlen.

Wie eine Mutter, die vom Schlaf erwacht,

Nach ihrem Kind im Dunkeln streckt die Arme,

So greift, geweckt aus Träumen in der Nacht,

Das kranke Herz sogleich nach seinem Harme.


Ein festes Männerherz, das Frevel tat,

Will nichts von Reu und trüben Bußgeschäften;[823]

Mit seiner eignen Stärke schafft es Rat,

Vertraut des Willens ewig reinen Kräften,

Woran kein Makel klebt, wenn sie sich regen,

Den Wust vergangner Tage fortzufegen,

Wie von den Bergen bläst die Nebelhauben

Ein frisch lebendiges Gewitterschnauben.


Der trübe Kranke, dessen Leid und Klage

Den Ärzten eine unlösbare Frage,

Mag zauberkundgen Hirten, alten Frauen

Sein Leben abergläubisch anvertrauen.

Dort steht ein ungezähltes Heer in Waffen:

Der römische Hirte läßt den Ablaß glänzen,

Die Altfrau Kirche weiß mit Indulgenzen

Von jeder Schuld Gewissen rein zu schaffen.


Viel Ritterscharen und viel Pilgerhorden

Vereint der abenteuerliche Glauben:

Wenn sie durch vierzig Tage Ketzer morden,

Die Saaten tilgen, sengen rings und rauben

Daß Gott auf sie die volle Gnadenflut

Ausströme und den gleichen Segensbronnen

Als hätten sie das heilge Grab gewonnen,

Worin der Leib des Heilands hat geruht.


Und andre hören goldne Glocken läuten:

Herbei! herbei! hier fallen gute Beuten!

Noch andre lassen ihre Banner wehen,

Für ihre Macht auf Erden einzustehen.


Wagt über seinen Gott der Mensch zu denken,

So wird ers auch an seinem Fürsten wagen,

Er wird nicht blind sich ihm zu Füßen senken;

Woher dein Recht? und gilt es? wird er fragen.


Das fühlen tief und bang die Krongeschmückten,

Das trieb, daß sie so rasch die Schwerter zückten,[824]

Mehr als der Reue Schmerz und Ungeduld,

Im Ablaß rein zu werden jeder Schuld.


Zwei Männer an der Heeresspitze reiten:

Abt Arnald, den der Papst zum Haupt gesandt,

Graf Simon, den die Ritterschaft ernannt,

Dem Kreuzeszug als Feldherr vorzustreiten.

Ein schrecklich Paar! der eine kalt und klug,

Der andre rasch wie sturmgejagte Flammen,

So reiten Arnald und Simon zusammen

Gesellig wie Gedanke und Vollzug.


Oft trug das Roß Verderben, oft Beglücken,

Das Schicksal einer Welt auf seinem Rücken;

Wohin die Rosse jener beiden traten,

Gefolgt vom ungestümen Reiterschock,

Vergeht nicht nur das Gras von Languedoc,

Vergehen auch der Zukunft Freudensaaten.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 823-825.
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Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe / Versepen 2. Savonarola, Die Albigenser, Don Juan, Helena

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