Vierte Szene

[242] Wesener spaziert an der Lys in tiefen Gedanken. Es ist Dämmerung. Eine verhüllte Weibsperson zupft ihn am Rock.


WESENER. Laß Sie mich – ich bin kein Liebhaber von solchen Sachen.

DIE WEIBSPERSON mit halb unvernehmlicher Stimme. Um Gottes willen, ein klein Almosen, gnädiger Herr.

WESENER. Ins Arbeitshaus mit Euch. Es sind hier der lüderlichen Bälge die Menge, wenn man allen Almosen geben sollte hätte man viel zu tun.

WEIBSPERSON. Gnädiger Herr ich bin drei Tage gewesen, ohne einen Bissen Brod in Mund zu stecken, haben Sie doch die Gnade und führen mich in ein Wirtshaus, wo ich einen Schluck Wein tun kann.

WESENER. Ihr lüderliche Seele! schämt Ihr Euch nicht, einem honetten Mann das zuzumuten? Geht, lauft Euren Soldaten nach.[242]

WEIBSPERSON geht fort ohne zu antworten.

WESENER. Mich deucht, sie seufzte so tief. Das Herz wird mir so schwer. Zieht den Beutel hervor. Wer weiß wo meine Tochter itzt Almosen heischt. Läuft ihr nach und reicht ihr zitternd ein Stück Geld. Da hat Sie einen Gulden – aber bessere Sie sich.

WEIBSPERSON fängt an zu weinen. O Gott! Nimmt das Geld und fällt halb ohnmächtig nieder. Was kann mir das helfen?

WESENER kehrt sich ab und wischt sich die Augen. Zu ihr ganz außer sich. Wo ist Sie her?

WEIBSPERSON. Das darf ich nicht sagen. Aber ich bin eines honetten Mannes Tochter.

WESENER. War Ihr Vater ein Galanteriehändler?

WEIBSPERSON schweigt stille.

WESENER. Ihr Vater war ein honetter Mann? – Steh Sie auf, ich will Sie in mein Haus führen. Sucht ihr aufzuhelfen. Wohnt Ihr Vater nicht etwan in Lille – Beim letzten Wort fällt sie ihm um den Hals.

WESENER schreit laut. Ach meine Tochter.

MARIANE. Mein Vater!


Beide wälzen sich halb tot auf der Erde. Eine Menge Leute versammlen sich um sie und tragen sie fort.


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 242-243.
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