Jakob Michael Reinhold Lenz

Für Wagnern

(Theorie der Dramata)

Es gibt zweierlei Art Gärten, eine die man beim ersten Blick ganz übersieht, die andere da man nach und nach wie in der Natur von einer Abwechselung zur andern fortgeht. So gibt es auch zwei Dramata, meine Lieben, das eine stellt alles aufeinmal und aneinanderhangend vor und ist darum leichter zu übersehen, bei dem andern muß man auf- und abklettern wie in der Natur. Wenn nun die Rauhigkeit der Gegend die Mühe nicht lohnt, so ist das Drama schlecht, sind aber die Sachen die man sieht und hört wohl der Mühe wert seine Phantasei ein wenig anzustrengen, dem Dichter im Gang seiner vorgestellten Begebenheiten nachzufolgen, so nennt man das Drama gut. Und ist die Aussicht die er am Ende des Ganges eröffnet, von der Art daß unsere ganze Seele sich darüber erfreut und in ein Wonnegefühl gerät das sie vorher nicht gespürt hat, so ist das Drama vortrefflich. Das ist die Theorie der Dramata.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 1, Stuttgart 1965–1966, S. 466.
Entstanden wohl 1774, Erstdruck in: Werke und Schriften, hg. von Britta Titel und Hellmut Haug, Stuttgart 1965.
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