|
[65] (1836.)
Herab von jenes alten Thurmes Zinne
Singst du ins Feld hinaus, einsamer Vogel,
Und erst des Tags Verscheiden macht dich stumm.
Der süße Wohllaut schweift durch dieses Thal;
In Lüften glänzt ringsum
Der Lenz und zieht frohlockend durch die Fluren,
Daß uns der Anblick zärtlich rührt die Brust.
Du hörst die Schafe blöken, Rinder brüllen,
Die andern frohen Vögel um die Wette
In tausend Kreisen schwärmen unterm Himmel,
Frohlockend dieser Zeit, der lustgeweihten.
Du blickst von fern nachdenklich ins Getümmel;
Nicht an Gefährten, Flügen
Und heiterm Spiel magst du Gefallen finden.
Du singst, – und so entschwinden
Dir deine wie des Jahres Blütezeiten.
[65]
Wie ähnlich, ach, verrinnt
Mein Tag dem deinen! Muntrer Scherz und Lachen,
Die stets der Jugendzeit Gespielen sind,
Und du, der Jugend holde Schwester, Liebe,
Du bittrer Seufzer unsrer reifern Tage,
Mich rührt ihr nicht; warum? ich weiß es nicht;
Ja, euch entflöh' ich gerne.
Fast allen Menschen ferne,
Fremd meinem Heimathort,
Seh' ich, wie meines Lebens Lenz verstreicht.
Sie pflegen diesen Tag, der nun sich neigt,
In unserm Städtchen festlich zu begehn.
Horch, wie durch klare Luft das Glöckchen tönt,
Horch, wie dazwischen oft aus Eisenröhren
Ein Donnern fern von Haus zu Haus erdröhnt.
Des Ortes Jugend heut
In ihren Feierkleidern
Verläßt die Häuser, wandelt hier- und dorthin
Und schaut und läßt sich schau'n und ist vergnügt.
Ich geh' in Einsamkeit
Hinaus hier diesen abgelegnen Pfad.
Ach, alle Lust und Freude
Vertag' ich auf die Zukunft, und indeß ich
Den Blick ins Helle lenke,
Trifft mich die Sonne, die von fernen Bergen
So klar herübersieht
Und scheidend mir zu sagen scheint: gedenke,
Wie bald die sel'ge Jugendzeit entflieht.
Du, einsam Vögelchen, wenn sich zum Abend
Das Leben neigt, das dir die Sterne gönnen,
Wirst nicht beklagen dies
Dein stilles Dasein; denn aus der Natur
Blüht euch all euer Glück.[66]
Doch ich – läßt mein Geschick
Mich zur verhaßten Schwelle
Des Greisenthums gelangen,
Wo diesen Augen, stumm für fremde Herzen,
Die Welt verödet dünkt, der nächste Tag
Noch trauriger, als alle, die vergangen –
Wie wird mir diese Zeit,
Einsam versäumt, wie werd' ich selbst mir scheinen?
In Reue werd' ich weinen
Und ach, umsonst zur Jugend heimverlangen.
Ausgewählte Ausgaben von
Gesänge
|
Buchempfehlung
Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.
52 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro