XXI. An Silvia.

[93] (1831.)


Silvia, gedenkst du noch

An jene Zeit in deinem Erdenleben,

Als dir von Schönheit glänzte

Dein lachend Augenpaar in muntrer Helle

Und du betratst, froh und gedankenvoll,

Des Jungfraunalters Schwelle?


Von früh bis spät erklangen

Die stillen Zimmer und ringsum die Gassen

Von deinem hellen Singen,

Wenn bei der Arbeit eifrig ohne Säumen

Du saßest und in Träumen

Von schöner Zukunft fröhlich war dein Sinn.

Süß duftete der Mai. So pflegtest du

Die Tage zu verbringen.


Dann meinen theuren Büchern

Abtrünnig und den mühevollen Heften,

An die ich früh gewendet

Den besten Theil von meinen Jugendkräften,

Wie manchmal von des Vaterhauses Söller

Lauscht' ich auf deine Stimme unverwandt

Und spähte nach der Hand,

Die flink das Linnen hin und her durchlief.

Wie still die Luft sich kühlte![93]

Wie golden Weg' und Gärten,

Und hier das ferne Meer und dort die Berge!

Kein Menschenmund spricht aus,

Was ich im Busen fühlte!


Wie liebliche Gedanken,

O meine Silvia, welch ein hoffend Streben!

Wie schien das Menschenleben

Uns damals wundersam!

Bedenk' ich, wie viel Täuschungen verglommen,

Fühl' ich mein Herz beklommen

Von trostlos bittrem Gram,

Und all mein Elend däucht mir schwerer nur.

Warum, warum, Natur,

Hältst du nicht Wort, erfüllest,

Was du versprachst, und trügst die eignen Kinder,

Die du mit Wahn umhüllest?


Du, eh' im Winter noch die Flur erstarrt,

Von tückisch leisem Siechthum hingerafft

Vergingst, du Zärtliche, und schautest nicht

Die Blüte deiner Jahre

Und durftest nicht erst fühlen,

Wie süß das Lob auf deine schwarzen Locken,

Auf deine feurigscheuen Liebesblicke;

Nicht plauderten mit dir von holdem Glücke

Am Festtag die Gespielen.


Auch mir verging – wie bald! –

Mein liebstes Hoffen, meinen Jahren auch

Versagten die Geschicke

Den Jugendglanz. Wie bist du

Entschwebt, gleich einem Hauch,

Holde Gefährtin meiner Knabenzeit,

Hoffnung, du vielbeweinte![94]

Das also ist die Welt,

Die Freuden, Thaten, Lieb' und bunten Fährden,

Die Jeder fröhlich zu erleben meinte?

Dies das Geschick der Sterblichen auf Erden?

Beim Nah'n der Wahrheit sankst du

Dahin, du Aermste; und von ferne nur

Wies deine Hand den kalten Tod mir und

Ein Grab auf öder Flur.

Quelle:
Leopardi, Giacomo: Gedichte und Prosaschriften. Berlin 1889, S. 93-95.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Gesänge
Canti e Frammenti /Gesänge und Fragmente: Ital. /Dt.
Canti /Gesänge
Canti /Gesänge. Italienisch-Deutsch
Gesänge, Dialoge und andere Lehrstücke. ( Werke, Bd. 1)
Gesänge. Dialoge und andere Lehrstücke. Zibaldone

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon