XXX. Auf ein antikes Grab-Basrelief, eine todte Jungfrau darstellend, die im Begriff ist von den Ihrigen Abschied zu nehmen.

[121] (1836.)


Wo eilst du hin? Wer ruft dich

Hinweg von deinen Lieben,

Du holde Mädchenblume?

Willst du allein dein väterliches Haus

So früh verlassen? Kehrst zu dieser Schwelle

Du je zurück und wird ein Wiedersehen

Erfreun, die heut in Thränen dich umstehen?


Dein Aug' ist trocken, muthig die Geberde,

Und dennoch bist du traurig. Ob willkommen,

Ob unerwünscht die Reise dir erschiene,[121]

Ob dir das Ziel mißfällt –

Aus deiner ernsten Miene

Verräth sich's kaum. Ach, zweifelnd und beklommen

Schwankt mir das Herz, und wohl in aller Welt

Weiß Niemand, ob sich gnädig dir der Himmel,

Ob grausam wollt' erweisen,

Ob man dich soll beklagen oder preisen.


Dich ruft der Tod; schon bei des Tags Beginn

Die letzte Stunde! Zum verlassnen Neste

Kehrst du nicht mehr. Für immer

Musst du die theuren Eltern

Verlassen. Unterirdisch

Ist deiner Reise Ziel;

Dort wirst du nun verweilen fürderhin.

Ein Glück vielleicht! Und doch, wer still bei sich

Dein irdisch Loos betrachtet, seufzt um dich.


Niemals das Licht zu schauen

War wohl das Beste. Doch einmal geboren,

Da Schönheit erst sich königlich entfaltet

In Wuchs und Angesicht

Und schon die Welt von ferne

Beginnt sich ihrer jungen Macht zu beugen,

Beim Aufblühn jeder Hoffnung, da noch nicht

Mit düstrer Blitze flammender Gewalt

Wahrheit die freudenhelle Stirn getroffen,

Gleich einem Rauche, der im Tageslicht

Ein windbewegtes Wölkchen aufwärts wallt,

So, gleich wie nie entstanden, zu verschweben

Und künft'ge Lebensfülle

Zu tauschen mit des Grabes dunkler Stille,

Das ist's – mag es dem Geist

Auch eine Wohlthat scheinen –,

Was auch dem Muthigsten das Herz zerreißt.
[122]

Mutter, von deinen Kindern

Gefürchtet, die du früh schon weinen lehrst,

Natur du grause, die du nur gebärst

Und nährst, um deine eigne Brut zu tödten:

Wenn Scheiden vor der Zeit

Ein Übel ist, wie kannst du es erwählen

Den schuldlos jungen Seelen?

Und ist's ein Glück, warum

Muß als das schwerste Leid

Solch Scheiden Dem, der bleibt, Dem, der die Seinen

Verlassen soll, so trostlos herb erscheinen?


Elend, wohin sie blicken,

Elend, wohin sie streben oder flüchten,

Sind deine schwachen Kinder,

Und selbst der Jugend Träume,

Du lässest sie am Leben

Zu Schanden werden. Wachsend mit den Jahren

Bedrängen uns Gefahren. Nur der Tod

Schirmt uns vor Leid. Dies unentrinnbar feste

Gesetz, dies letzte Ziel

Gabst du dem Lauf des Lebens. Ach, warum

Ist nach der rauhen Bahn zum Mindsten nicht

Das Ziel uns freudenvoll? Warum das Ende,

Das als gewiß uns Allen,

So lang wir leben, stets vor Augen steht,

Den einz'gen Trost der Leiden,

Die uns hienieden trafen,

Mit schwarzem Flor umkleiden,

Mit Grau'n ihn so umgeben,

Daß uns mit Furcht und Beben

Mehr als die Brandung schreckt der sichre Hafen?


Zwar, wenn dies bittre Sterben

Ein Loos ist, das du Allen[123]

Verhängt, die ohne Wissen du und Willen

Und ohne Schuld dem Leben preisgegeben,

So ist, wer stirbt, von Dem noch zu beneiden,

Der seiner Lieben Scheiden

Erleben muß. Denn wenn das Leben wirklich

Ein Unglück ist und sterben

Ein Glück, wer könnte drum und ach, wer wollte,

Wie doch im Grund er sollte,

Den letzten Tag ersehnen seiner Lieben,

Um dann, zurückgeblieben

Arm und beraubt, zu sehen,

Wie von der Schwelle das geliebte Wesen

Von hinnen wird getragen,

Mit dem vereint er lebte manches Jahr,

Ade ihm sagen, jeder Hoffnung baar,

Ihm wieder zu begegnen

In dieser ird'schen Welt;

Und dann, auf Erden einsam und verlassen

Umblickend, in gewohnter Stund' und Stätte

Zu denken Dessen, dem er einst gesellt?

Wie, o Natur, wie bringst du's übers Herz,

Grausam hinwegzureißen

Den Freund aus Freundesarmen,

Geschwister von Geschwistern,

Die Kinder von den Eltern,

Sein Lieb vom Liebenden, daß Eins erlischt

Und weiter lebt das Andre? Mußtest du

Zum Leiden und zum Lieben

Die Kraft uns leihn, daß, was wir heiß geliebt,

Wir überleben? Doch Natur von je

Gehorchte andern Trieben,

Und wenig gilt ihr unser Wohl und Weh.

Quelle:
Leopardi, Giacomo: Gedichte und Prosaschriften. Berlin 1889, S. 121-124.
Lizenz:
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