[57] Nachdem ich von Maxim Maximitsch Abschied genommen, jagte ich rasch an den Abgründen des Terek und des Dareal vorüber. Ich frühstückte zu Kasbek, nahm meinen Thee zu Lars und aß in Wladikawkas zu Abend. Ich verschone euch mit den Beschreibungen der Berge und den Exclamationen, die nichts ausdrücken, – am wenigsten für diejenigen, welche nicht dieselbe Reise gemacht haben; auch will ich euch nicht mit statistischen Notizen behelligen, die ja doch kein Mensch liest.
Ich blieb in einer Schenke, wo alle Reisende einkehren, und in welcher es doch Niemand gibt, der Einem eine[57] Suppe kochen oder einen Fasan braten könnte. Denn die drei Invaliden, welche die Aufwartung besorgen, sind entweder zu dumm oder zu betrunken, als daß irgend etwas von ihnen zu erhalten wäre.
Man erklärte mir, daß ich noch drei Tage dort warten müsse; denn eher komme die »Occasion« (Gelegenheit) aus Jekaterinograd1 nicht an, und daß ich folglich nicht früher abreisen könne. Welch eine Gelegenheit! ... Um mich zu zerstreuen, kam ich auf den Einfall, Bela's Geschichte niederzuschreiben, nicht ahnend, daß sie das erste Glied einer langen Reihe von Novellen werden sollte. Da sieht man, wie bisweilen der unbedeutendste Zufall ernste Folgen hat! ... Aber ihr wißt vielleicht nicht, was man in jenem Lande eine Occasion nennt? Das ist eine militärische Bedeckung, bestehend aus einer halben Compagnie Infanterie mit einigen Kanonen, welche die Proviantzüge durch die Kabardie von Wladikawkas bis Jekaterinograd escortirt.
Am ersten Tage langweilte ich mich recht herzlich. Am Morgen des zweiten sehe ich einen Wagen in den Hof fahren .... Ah, Maxim Maximitsch! ... Wir begrüßten uns wie alte Freunde. Ich stellte ihm mein Zimmer zur Verfügung. Er nahm ohne alle Umstände an, schlug mir vertraulich auf die Schulter und machte eine Grimasse, die für ein Lächeln gelten sollte. Welch ein seltsamer Mensch! ... Maxim Maximitsch besaß tiefe Kenntnisse in der culinarischen Kunst. Er verstand ausgezeichnet einen Fasan zu braten, den er sehr passend mit Gurkensauce begoß, und ich muß gestehen, daß ich ohne ihn sehr schmal gelebt haben würde. Eine Flasche Kachetinerwein half uns die Einfachheit unseres Menus vergessen, das nur aus einem einzigen Gericht bestand. Dann steckten wir unsere[58] Pfeifen an und setzten uns, ich ans Fenster und er an den Ofen, denn die Temperatur war feucht und kalt.
Wir bewahrten Beide Schweigen. Wovon hätten wir reden sollen? ... Was er Interessantes erlebt, hatte er mir bereits mitgetheilt, und ich hatte von mir nichts zu erzählen. Ich sah zum Fenster hinaus. Durch die Bäume hindurch gewahrte man eine Menge kleiner niedriger Häuser, die an dem Ufer des hier sehr breiten Terek zerstreut lagen, etwas weiter erhoben sich die Berge mit ihren Felsenkämmen, und aus noch weiterer Ferne blickte der Kasbek mit seinem weißen Cardinalshute herüber. Ich nahm im Geiste von der ganzen Gegend Abschied; mir war traurig zu Muthe ... Lange blieben wir so schweigend sitzen. Die Sonne verschwand hinter den kalten Berggipfeln, ein weißlicher Nebel begann in die Thäler herabzusteigen, – da plötzlich höre ich von der Straße herauf die Töne eines Postglöckchens und das Geschrei mehrerer Postillone. Ein paar Wagen, von schmutzigen Armeniern geführt, fuhren auf den Hof der Herberge. Ihnen folgte eine Reisekalesche, die leer zu sein schien. Die leichte Bewegung, die sorgfältige Construction und die elegante Form derselben hatten ein gewisses ausländisches Gepräge. Hinter diesem Gefährt schritt ein Mann mit großem Schnurrbart her, in polnischem Schnürrock und überhaupt für einen Bedienten ziemlich gut gekleidet. Die Art, wie er seine Pfeife ausklopfte und den Kutscher anredete, ließ über seine Stellung keinen Irrthum aufkommen. Allem Anscheine nach war er der verzogene Diener eines faulen Herrn – eine Art russischer Figaro.
»Sage mir, Freund,« rief ich ihm aus dem Fenster zu, »ist das die Occasion, die da soeben angekommen ist?«
Er sah mich ziemlich impertinent an, rückte seine Cravatte zurecht und wandte mir den Rücken.
Ein Armenier, der sich neben ihm befand, begann zu lächeln und antwortete dann statt seiner, daß es in der[59] That die Occasion sei, und daß sie am folgenden Morgen wieder abreisen würde.
»Gott sei Dank!« sagte Maxim Maximitsch, der in diesem Augenblick ans Fenster trat. »Aber welch wundervolles Gefährt,« fügte er hinzu. »Ohne Zweifel das irgend eines hohen Würdenträgers, der sich nach Tiflis begibt. Man sieht es, unsere Berge kennt er nicht. Nein, mein Lieber, mit dem Wägelchen kommt er nicht weit und käme es aus der Fabrik des besten englischen Wagenbauers. Aber wem mag das Ding wol gehören? ... Das müssen wir doch wissen ...«
Wir gingen in den Corridor hinaus. Am Ende desselben stand die Thür zu einem Nebenzimmer auf, in welches der Diener und der Kutscher Koffer hineintrugen.
»Höre, Freundchen,« sagte der Hauptmann zu dem Diener, »wem gehört diese merkwürdige Kalesche? ... In der That, ein sehr schönes Fuhrwerk.«
Der Diener brummte, ohne sich umzuwenden, ein paar unverständliche Worte in den Bart und setzte seine Arbeit fort.
Maxim Maximitsch wurde zornig; er schlug dem ungezogenen Menschen auf die Schulter und sagte:
»Ich spreche mit dir!«
»Wem diese Kalesche gehört ...? Na, meinem Herrn ...«
»Und wer ist dein Herr?«
»Petschorin ...«
»Was sagst du, was sagst du?« rief Maxim Maximitsch. »Petschorin? ... Ach, mein Gott! ... Hat er nicht im Kaukasus gedient?«
Der Hauptmann zog mich am Aermel. Die Freude glänzte ihm in den Augen.
»Ich glaube, ja,« antwortete der Diener; »aber ich befinde mich erst seit kurzer Zeit bei ihm.«
»Er ist's, er ist's! Gregor Alexandrowitsch ... nicht wahr, das ist sein Tauf- und Vatersname? ... Ich habe[60] mit deinem Herrn zusammen gedient,« setzte er hinzu, indem er dem Diener so freundschaftlich auf die Schulter klopfte, daß dieser strauchelte ...
»Verzeihen Sie, mein Herr,« sprach dieser mürrisch, »Sie hindern mich an meiner Arbeit.«
»Ach was, mein Lieber!« ... fuhr der Hauptmann fort, »du weißt also nicht, daß ich mit deinem Herrn innig befreundet gewesen, daß wir zusammen gelebt haben? ... Aber wo ist er denn geblieben?«
Der Diener erklärte, daß Petschorin sich bei dem Oberst N. befinde, daß er dort zu Abend esse und übernachte.
»Aber kommt er denn nicht heut' Abend hierher?« sagte Maxim Maximitsch, »oder gehst du nicht zu ihm? ... Dann sage ihm, daß sich hier Maxim Maximitsch befindet, hörst du? das genügt ... Ich gebe dir auch ein paar Griweniks2 Trinkgeld ...«
Der Diener machte ein verächtliches Gesicht bei einem so bescheidenen Anerbieten, versprach jedoch Maxim Maximitsch, seine Bestellung auszurichten.
»Er wird sofort herbeieilen!« sagte Maxim Maximitsch mit triumphirender Miene. »Ich will ihn am Thor erwarten ... Wie schade, daß ich mit Oberst N. nicht bekannt bin.«
Mit diesen Worten setzte sich Maxim Maximitsch auf eine Bank an der Thür der Herberge, und ich begab mich in mein Zimmer. Ich gestehe, daß auch ich mit einiger Ungeduld das Erscheinen dieses Petschorin erwartete, obgleich mir die Erzählung des Hauptmannes keine sehr hohe Meinung von ihm gegeben; allein er hatte einige Charakterzüge an sich, die mir interessant schienen.
Eine Stunde war verstrichen. Der Invalide brachte mir den kochenden Samowar3 und die Theekanne.[61]
»Maxim Maximitsch,« rief ich durch das Fenster, »wollen Sie keinen Thee?«
»Ich danke; ich habe keine Lust.«
»Warum denn nicht? Es ist schon spät .... und dabei recht kalt.«
»Ich danke ...«
»Na, wie Sie wollen!«
Und ich begann allein Thee zu trinken. Zehn Minuten später sehe ich meinen Alten zu mir hereintreten.
»Sie haben doch Recht; am besten, ich trinke ein Täßchen ... Ich habe da auf Petschorin gewartet. Sein Diener muß ihm doch schon längst gemeldet haben, daß ich hier bin; offenbar hat er nicht abkommen können.«
Eiligst trank er eine Tasse, weigerte sich, eine zweite zu nehmen und kehrte wieder auf seinen Posten an der Thür zurück; jedoch mit einer gewissen Unruhe. Offenbar fühlte er sich durch Petschorins Gleichgiltigkeit gekränkt, – um so mehr, da er mir vor Kurzem von ihrer Freundschaft erzählt hatte, und er noch vor einer Stunde so fest überzeugt gewesen, daß Petschorin, sobald er seinen Namen höre, sofort herbeieilen würde.
Es war schon spät und ziemlich dunkel, als ich nochmals das Fenster öffnete, um Maxim Maximitsch zuzurufen, daß es Zeit zum Schlafen sei. Er murmelte nur etwas Unverständliches durch die Zähne. Ich wiederholte meine Aufforderung – er gab gar keine Antwort.
Ich wickelte mich in meinen Mantel und legte mich auf das Sofa. Das Licht ließ ich angezündet auf der Ofenbank stehen und schlief bald ein; und ich glaube, daß ich recht gut geschlafen hätte, wenn mich Maxim Maximitsch, als er spät eintrat, nicht geweckt hätte. Er warf die Pfeife auf den Tisch, schritt im Zimmer auf und ab, sah nach dem Feuer im Ofen und legte sich endlich hin; aber noch lange hörte ich ihn husten, ausspucken und sich auf seinem Lager hin- und herwenden ...[62]
»Belästigen Sie vielleicht gewisse Insekten?« fragte ich.
»Ach ja, die Insekten!« antwortete er mit einem tiefen Seufzer.
Am folgenden Morgen wachte ich früh auf; aber Maxim Maximitsch war mir bereits zuvorgekommen. Ich fand ihn schon auf seiner Bank an der Thür der Herberge.
»Ich muß mich zu dem Commandanten begeben,« sagte er; »wenn inzwischen Petschorin kommt, so lassen Sie mir's gefälligst melden.«
Ich versprach ihm das, und er entfernte sich so rasch, als ob seine Glieder die Gewandtheit und Kraft der Jugend wiedererlangt hätten.
Der Morgen war frisch und schön. Goldgeränderte Wolken schwebten über den Bergen und nahmen sich aus wie eine neue, in der Luft schwebende Gebirgskette. Vor unserer Schenke lag ein großer Marktplatz. Es war Sonntag, und der Bazar wimmelte von Menschen. Bald war ich von einem Haufen barfüßiger Ossetenknaben umringt, die auf ihren Schultern Körbe mit Honigscheiben herumtrugen und zum Verkauf anboten. Aber ich hielt sie mir ungeduldig vom Leibe; sie interessirten mich nicht, – die Unruhe des braven Hauptmannes begann sich auch meiner zu bemächtigen.
Noch waren keine zehn Minuten verflossen, als sich am andern Ende des Platzes derjenige zeigte, den wir seit dem vorhergehenden Abend erwarteten. Er war von dem Oberst N. begleitet, welcher, nachdem er ihn zu unserm Wirthshause gebracht, sich von ihm verabschiedete und in das Fort zurückkehrte. Ich schickte sogleich einen der Invaliden zu Maxim Maximitsch.
Der impertinente Diener, mit dem wir am vorhergehenden Abend geredet, ging Petschorin entgegen, theilte ihm mit, daß der Wagen im Augenblick bereit stehen würde, hielt ihm ein Cigarrenkästchen hin und begann, nachdem er einige Befehle erhalten, Vorbereitungen zur Abreise zu treffen.[63]
Petschorin steckte sich eine Cigarre an, gähnte einige Mal und setzte sich dann auf eine Bank vor der Thür.
Dies dürfte der rechte Augenblick sein, euch sein Portrait zu zeichnen.
Er war von mittlerer Größe, schlank und fein gebaut; aber seine breiten Schultern deuteten auf eine kräftige Constitution hin, fähig, die Anstrengungen des Wanderlebens und die klimatischen Veränderungen ebenso zu ertragen, wie die Ausschweifungen des hauptstädtischen Lebens und die Stürme der Leidenschaft. Sein hellgrauer, nachlässig zugeknöpfter Sammetüberrock ließ eine Wäsche von blendender Weiße sichtbar werden, – eines der charakteristischen Zeichen eines Mannes von Geschmack. Seine zerknitterten Handschuhe schienen extra nach einem Modell seiner kleinen aristokratischen Hände gemacht zu sein, und als er einen der Handschuhe auszog, frappirte mich die Zartheit seiner weißen Finger. Sein Gang verrieth Gleichgiltigkeit und Faulheit; aber ich bemerkte, daß er beim Gehen nicht die Arme schwenkte, was ich für einen Beweis eines verschlossenen Charakters halte. Uebrigens sollen diese Bemerkungen nur das Ergebniß meiner Eindrücke sein, und ich habe durchaus nicht die Anmaßung, sie für unfehlbar zu halten.
Als er sich auf der Bank niederließ, schien seine Taille sich über sich selbst zusammenzufalten, als wäre sein Rückgrat ohne Knochen. Seine ganze Haltung verrieth eine gewisse nervöse Schwäche. Wie er so da saß, hätte man meinen sollen, man habe eine dreißigjährige Balzacsche Kokette vor sich, die sich nach einem ermüdenden Ball auf ihren Daunensessel geworfen. Auf den ersten Blick hätte ich ihm nicht mehr als dreiundzwanzig Jahre gegeben, aber bei näherer Betrachtung schätzte ich ihn auf mindestens dreißig. In seinem Lächeln lag etwas Kindliches. Sein Teint hatte eine gewisse weibliche Zartheit. Blondes, natürlichgelocktes Haar beschattete anmuthig seine blasse edle Stirn, auf welcher man, aber erst bei sorgfältiger Betrachtung,[64] Spuren von durcheinanderlaufenden Falten entdeckte, die ohne Zweifel in den Augenblicken des Zornes oder der Aufregung deutlicher hervortraten. Trotz der hellblonden Farbe seines Haares waren Schnurrbart und Brauen doch schwarz – was eben so sehr bei Menschen ein Racezeichen ist, wie bei einem weißen Pferde eine schwarze Mähne und ein schwarzer Schweif. Um das Bild zu vollenden, will ich noch sagen, daß er eine etwas aufgeworfene Nase, untadelhaft weiße Zähne und braune Augen hatte. Aber über diese Augen muß ich mir noch ein paar Worte gestatten.
Zunächst dies: Sie lächelten nicht mit, wenn die Lippen lächelten! ... Ist euch diese Eigenthümlichkeit bei gewissen Menschen nicht aufgefallen? ... Es ist das ein Zeichen eines schlechten Charakters oder eines tiefen unheilbaren Kummers. Unter ihren halbgeschlossenen Lidern hervor strahlten sie einen gewissen phosphorartigen Glanz aus, wenn ich mich so ausdrücken darf. Dieser Ausdruck war weder der Wiederschein einer glühenden Seele noch das Aufblitzen einer erregten Phantasie; es war der Glanz des geschliffenen Stahls, – blendend, aber kalt. Sein Blick war nicht fest, aber durchdringend und peinlich. Er machte den unangenehmen Eindruck einer indiscreten Frage und wäre frech gewesen, wenn er nicht zugleich eine solche Ruhe und Gleichgiltigkeit ausgedrückt hätte.
Vielleicht machte ich alle diese Beobachtungen nur darum, weil ich einige Einzelheiten aus seinem Leben kannte, und es ist möglich, daß sein Gesicht auf einen Andern einen ganz andern Eindruck gemacht hätte. Aber da der Leser niemals von Jemand anders als von mir über meinen Helden wird reden hören, wird er wohl oder übel sich dazu verstehen müssen, ihn mit meinen Augen anzusehen.
Uebrigens muß ich noch hinzufügen, daß er im großen Ganzen ein Mann von recht angenehmem Aeußeren war und eine jener Physiognomien hatte, die vorzugsweise den Frauen gefallen.[65]
Die Pferde waren angespannt; die Glöckchen hatten sich schon mehr als einmal vernehmen lassen; der Diener hatte Petschorin schon zweimal gemeldet, daß Alles zur Abfahrt bereit sei, – und Maxim Maximitsch erschien noch immer nicht. Zum Glück war Petschorin in eine Träumerei versunken. Seine Blicke waren auf die blauen zackigen Kämme des Kaukasus gerichtet, und es schien, als ob es gar keine Eile habe mit seiner Abreise.
Ich trat auf ihn zu und sagte:
»Wenn Sie noch ein wenig warten wollen, werden Sie das Vergnügen haben, einen alten Freund wiederzusehen ...«
»Ah, richtig!« antwortete er rasch; »man hat mir gestern Abend von ihm gesprochen; aber wo ist er?«
Ich wandte mich nach dem Marktplatz um, und da sah ich Maxim Maximitsch aus allen Kräften herbeieilen ...
Nach einigen Minuten stand er ganz athemlos bei uns; der Schweiß strömte ihm über das Gesicht; die feuchten Büschel seiner grauen Haare drangen unter seiner Mütze hervor und klebten an der Stirn; seine Knie zitterten ... Er wollte sich Petschorin um den Hals werfen, aber dieser streckte ihm ziemlich kalt, wenn auch mit höflichem Lächeln, die Hand entgegen. Der Capitain schien einen Augenblick verblüfft und verletzt, aber dann ergriff er die ausgestreckte Hand mit seinen beiden Händen und drückte sie mit Wärme; doch vermochte er noch immer kein Wort hervorzubringen.
»Wie freut es mich, Sie wiederzusehen, mein lieber Maxim Maximitsch,« sagte Petschorin. »Nun, wie geht es Ihnen?«
»Und du ... und Sie? ...« stotterte mit Thränen in den Augen der alte Mann. »So viele Jahre ... so viele Tage ... aber wo soll's jetzt hingehen?«
»Nach Persien ... vielleicht auch noch weiter.«
»Aber doch nicht sofort? ... Nein, Sie dürfen uns nicht so schnell verlassen, lieber Freund; Sie müssen noch[66] etwas bei uns bleiben! ... Wir haben uns so lange nicht gesehen ...«
»Ich habe Eile, Maxim Maximitsch,« lautete die Antwort.
»Mein Gott, wozu eine solche Hast? ... Ich habe Ihnen so viel zu erzählen ... so viele Fragen an Sie zu richten ... Nun, haben Sie den Dienst quittirt? ... Und – was ist nun aus Ihnen geworden?«
»Ich habe mich gelangweilt,« antwortete Petschorin lächelnd.
»Erinnern Sie sich noch der Tage, die wir miteinander in dem Fort verlebten? ... Welch herrliche Jagdreviere! ... Und Sie waren ein so leidenschaftlicher Jäger ... Und Bela ...«
Petschorin erblaßte ein wenig und wandte sich ab ...
»Ja, ich erinnere mich,« versetzte er – und mußte fast in demselben Augenblick gähnen.
Maxim Maximitsch drang in ihn, doch noch zwei Stunden zu bleiben.
»Wir werden herrlich zu Mittag speisen,« sagte er. »Ich habe noch zwei Fasanen und es gibt hier ausgezeichneten Kachetinerwein ... Natürlich, so gut wie der in Georgien ist er nicht; aber er ist doch von trefflicher Qualität ... Wir plaudern mit einander ... Sie erzählen mir von Ihrem Leben in Petersburg ... nicht wahr?«
»Aber ich habe wirklich nichts zu erzählen, mein lieber Maxim Maximitsch ... Und nun leben Sie wohl, es wird Zeit ... ich muß mich beeilen ... Ich danke Ihnen, daß Sie mich nicht vergessen haben,« fügte er, seine Hand ergreifend, hinzu.
Der alte Offizier runzelte die Stirn ... Er fühlte sich verletzt und gekränkt, obgleich er sich bemühte, seinen Unmuth zu verheimlichen.
»Vergessen!« rief er aus. »Nein, ich habe nichts vergessen ... Nun, Gott mit Ihnen ... Ich dachte nicht, daß wir uns so wiedersehen würden ...«[67]
»Nun, nun!« versetzte Petschorin, indem er ihn freundschaftlich umarmte. »Bin ich denn nicht der Alte? ... Was soll man machen? Jeder geht seines Weges ... Ob wir uns jemals wieder begegnen werden ... Das weiß Gott!«
Mit diesen Worten nahm er Platz in seiner Kalesche und der Kutscher hatte bereits die Zügel in den Händen.
»Halt, halt!« rief plötzlich Maxim Maximitsch und griff nach der Wagenthür. »Das hatt' ich ja ganz vergessen ... Sie wissen, Gregor Alexandrowitsch, Sie hatten mir Ihre Papiere übergeben ... ich trage sie immer mit mir herum und hoffte sie Ihnen in Georgien zustellen zu können, aber da ich Sie nun hier treffe ... was soll ich damit machen?«
»Was Sie wollen!« antwortete Petschorin. »Leben Sie wohl ...«
»Also nach Persien gehen Sie? ... Und wann kehren Sie zurück?« rief ihm Maxim Maximitsch nach.
Aber der Wagen jagte schon davon, und Petschorin machte mit der Hand ein Zeichen, das man in folgender Weise übersetzen konnte:
»Sie sind betrübt? Ich wüßte nicht warum!«
Schon längst war nichts mehr zu hören, weder von dem Postglöckchen noch von dem Rasseln des Wagens auf dem steinigen Wege, und noch immer stand der arme Greis an derselben Stelle, stumm und in tiefes Sinnen verloren.
»Ja,« sagte er endlich, und bemühte sich eine gleichgiltige Miene anzunehmen, obschon Thränen des Aergers von Zeit zu Zeit an seinen Wimpern schimmerten – »und dennoch sind wir Freunde gewesen, – aber was ist heut zu Tage Freundschaft! ... Was kann ihn an mir interessiren? Ich bin nicht reich, ich habe keinen hohen Rang, und an Jahren sind wir uns erst recht nicht gleich ...«
»Und welch ein Stutzer er während seines neuen Aufenthalts in Petersburg geworden ist! ... Welch eine Kalesche! ...[68] Und welch eine Menge Reisegepäck! ... Und welch ein impertinenter Diener!«
Diese letzteren Worte wurden mit einem ironischen Lächeln gesprochen.
»Sagen Sie 'mal,« fuhr er, zu mir gewendet, fort, »was halten Sie von einem solchen Einfall? ... Was zum Teufel führt ihn denn nun nach Persien! ... Es ist lächerlich, wahrhaftig lächerlich! ... Uebrigens wußte ich längst, daß er ein windiger Mensch ist, auf den man sich nicht verlassen kann ... Aber schade ist es doch ... er wird ein schlimmes Ende nehmen, ganz unzweifelhaft! ... Ich habe es immer gesagt: Wer seine alten Freunde vergessen kann, an dem ist nichts Solides ...«
Hier wandte er sich wieder ab, um seine Regung zu verbergen, trat in den Hof und ging um seinen Wagen herum, als ob er die Räder untersuchen wollte ... Seine Augen hatten sich mit Thränen gefüllt.
»Maxim Maximitsch,« sagte ich, auf ihn zutretend, »was sind das für Papiere, die Petschorin Ihnen übergeben hat?«
»Das weiß Gott! So eine Art Tagebuch ...«
»Was wollen Sie damit machen?«
»Nun – Patronen.«
»Geben Sie sie lieber mir.«
Er sah mich überrascht an, murmelte etwas zwischen den Zähnen und begann in einem Koffer zu wühlen.
Bald zog er ein Heft hervor, das er verächtlich zur Erde warf; ein zweites, ein drittes und ein viertes hatten dasselbe Schicksal. Es lag in dem Aerger des Hauptmannes etwas Knabenhaftes; wie sehr ich mit ihm auch sympathisirte, sein Zorn kam mir lächerlich vor ...
»Da ist die ganze Schreiberei,« sagte er; »ich gratulire Ihnen zu diesem Schatze ...«
»Und ich kann mit diesen Papieren machen, was ich will?«[69]
»Sie können sie sogar in den Zeitungen veröffentlichen. Was gehen sie mich an? ... Bin ich etwa ein Freund oder Verwandter von ihm? ... Allerdings, wir haben lange Zeit mit einander unter einem Dache gelebt ... Aber mit wem hätte ich nicht schon eine Zeit lang zusammengelebt?«
Ich beeilte mich, die Hefte aufzulesen und sie schnell in Sicherheit zu bringen, da ich befürchtete, der Hauptmann könnte auf andere Gedanken kommen. Bald meldete man uns, daß die Occasion in einer Stunde abgehen würde; ich befahl, anzuspannen. Der Hauptmann trat gerade zu mir ins Zimmer, als ich mit den letzten Vorbereitungen zur Abreise fertig war. Er schien mir noch gar nicht zur Abreise bereit, und sein Gesicht hatte einen gezwungenen kalten Ausdruck.
»Reisen Sie denn nicht mit uns, Maxim Maximitsch?«
»Nein!«
»Warum nicht?«
»Ich habe den Commandanten noch nicht gesprochen, und ich muß ihm verschiedene Gegenstände übergeben ...«
»Sie sind aber doch in seiner Wohnung gewesen?«
»Allerdings,« versetzte er etwas verlegen; »aber er war nicht zu Hause; und ich wollte nicht warten.«
Ich begriff. Der arme Greis hatte vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben eine Dienstsache persönlichen Angelegenheiten nachgesetzt, – und wie war er dafür belohnt worden!
»Es thut mir sehr leid,« sagte ich zu ihm, »sehr leid, Maxim Maximitsch, daß wir uns so bald trennen müssen.«
»Was kann Ihnen an einem alten, ungebildeten Manne, wie ich bin, liegen! ... Die heutige Jugend ist stolz und weltlich gesinnt; so lange ihr den Kugeln der Tscherkessen ausgesetzt seid, meine schönen Herren, seid ihr sehr höflich gegen uns: aber begegnet man euch später, so schämt ihr[70] euch Unsereins und reicht einem alten Kameraden kaum die Hand.«
»Ich habe diese Vorwürfe nicht verdient, Maxim Maximitsch.«
»Ja ... nun ... achten Sie auf meine Worte nicht; übrigens wünsche ich Ihnen eine angenehme Reise und alles mögliche Glück.«
Wir schieden ziemlich trocken. Der brave Maxim Maximitsch war wieder der harte querköpfige Hauptmann geworden! Und warum? Weil Petschorin ihm aus Zerstreutheit oder aus einem andern Grunde die Hand gereicht, während dieser ihm um den Hals hatte fallen wollen. Es ist ein trauriger Augenblick, wenn ein junger Mann seine süßesten Träume, seine schönsten Hoffnungen in nichts zerrinnen sieht, – wenn der Rosenschleier vor ihm zerreißt, durch welchen er die Gedanken und das Treiben der Menschen beobachtete; und doch bleibt ihm in diesem schmerzlichen Augenblick noch eine Hoffnung, die Hoffnung, die Träume, die er verloren, durch neue Illusionen zu ersetzen, die zwar nicht weniger flüchtig, aber dafür auch nicht weniger verführerisch sind ... Aber womit soll man diese Gaben der Jugend in den Jahren eines Maxim Maximitsch ersetzen? Die Seele verschließt sich, das Herz verhärtet sich ... Ich reiste allein ab.
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